: Was ist Staub
Über Wollmäuse, Demütigung und Männerraub
von JUDITH LUIG
Die Geschichte des Staubes ist eine Geschichte der Erniedrigung. Staub gilt als unangenehm und unerwünscht. Er ist Verursacher von Krankheiten wie Stauballergie und Staublunge. Er erinnert den Menschen an Schmutz und Verfall und die Endlichkeit aller Dinge.
Der Mensch betrachtet deswegen die winzigen Staubkörnchen als seine Feinde. Immer folgen sie ihm in kleinen Wölkchen und lassen sich leise hinter seinem Rücken nieder. Nur – so denkt der Mensch – um ihm klar zu machen, dass er schon länger nicht mehr die Klassiker aus dem Bücherregal geholt hat, oder dass es für die feierlichen Weingläser seit Jahren keinen Anlass gibt. Dabei meint der Staub das eigentlich gar nicht so. Er will nur in der Nähe des Menschen sein.
Staub ist treu, auch wenn er verachtet und gedemütigt wird. Staub sitzt auf dem Mittagessen und rieselt auf das Menschenhaar. Er geht oft sogar mit ins Bett und liegt fast immer schon darunter. Aber unablässig jagt der Mensch ihn wie eine lästige Fliege weg.
Die Beziehung des Menschen zum Staub war allerdings nicht immer schlecht. In den Bauern- und Bürgerhäusern von Mittelalter und Renaissance sind Schmutz und Staub ideologisch noch nicht vollständig getrennt. Vor allem deshalb, weil auch die Materie sich nicht völlig trennen ließ. Somit profitiert der Staub noch von dem Ruf des Dreckes, fruchtbar und vital zu sein. Aus Dreck, Kot, Schmutz entsteht neues Leben, zum Beispiel der Dreck der Ställe, der die Felder düngt. Schließlich hat Gott die Welt und den Menschen ja auch aus Dreck geschaffen.
Zu Beginn der Mensch-Staub-Beziehungen ist Staub noch überall da, wo Menschen leben, wo gehobelt, gefeilt und gesägt wird. Staub entsteht aus Hautfetzen, Haaren, aus Holz und Steinen. Außerdem ist Staub auch noch tolerant, denn er macht keine Klassenunterschiede. Er wohnt im Kerker und im Königspalast, er fällt auf die Goldbordüre, auf die Monstranz, in die Armensuppe und auf die toten Fliegen am Fensterbrett des Schweinestalls.
Staub ist das Kleinste, was mit dem bloßen Auge wahrgenommen werden kann. Er ist das Maß des Winzigen und damit das letzte Sichtbare auf der Grenze zur Welt des Unsichtbaren. Aber weiter geht die Beschäftigung mit ihm nicht. Die widerwillige Duldung, die fast an Ignoranz grenzt, gefällt dem Staub natürlich nicht. Erste Staube spalten sich ab und gehen in die Opposition zum Menschen.
Durch die Erfindung der Maschinen und Fabrikhallen, die Industrialisierung, entwickelt sich eine ganz neue Generation von Stauben. Die Missachtung macht den Staub aggressiv. Der Ruß und Rauch aus den Öfen überzieht jetzt die Gesichter der Menschen und verschmutzt ihre Kleider. In den Zwischenräumen der Maschinen, auf den Tanks und in den Ritzen der Zahnräder versammeln sich die Staube aus dem Fabrikalltag zu dicken resistenten Schichten. Hier beginnt die Feindschaft: Als der Mensch morgens Heim und Herd verlassen muss, um in den großen, lauten Hallen am Fließband zu arbeiten, erhält ebendieses Heim eine besondere Bedeutung. Zuhause und Familie sollen das Gegenteil der Fabrik sein, nicht anonym und staubig, sondern heimelig und reinlich.
Die Schöpfung einer Hüterin über das Haus, die mit demselbigen alleine gelassen wird, während der Mann zur Arbeit geht, ist der Beginn des organisierten Kampfes gegen das Kleinste. Die Industrie entschuldigt sich für den Männerraub und stellt der Hausfrau zu deren Beschäftigung ein immer weiter wachsendes Arsenal an Staubvernichtern an die Seite. Der Hinterhältigkeit sind hier keine Grenzen gesetzt. Erst fängt der Teppich den Staub, dann trägt die Hausfrau den treusten Begleiter des Menschen auf den Hof und klopft ihn brutal zurück in den Schmutz, aus dem er hergekommen ist. In jüngerer Zeit wird sogar zu härteren Methoden gegriffen. Unter ohrenbetäubendem Lärm verschlingt meist zu früher Samstagmorgenstunde der Staubsauger die Schicht auf Teppich und Sofa und sperrt den Staub in einen Beutel. Von da aus geht es dann sofort in den Hausmüll und auf die Mülldeponie.
Schon jetzt gibt es Frauen, die in den Fabriken arbeiten und den Staub allein zu Hause lassen. Im Laufe der Jahre werden es immer mehr. Viele von ihnen stehen gar nicht am Fließband, sondern sind in den frühen Jahren der Emanzipation Ärztin oder Lehrerin geworden und irgendwann dann alles, was die Männer auch sind – und eigentlich auch genauso schlampig.
Zwei Erfindungen sind in dieser Entwicklungsstufe entscheidend: Die Ausleuchtung der Räume durch elektrisches Licht und die Entwicklung der Mikroskope rücken den Staub aus den Ecken heraus. Die Hausfrauen haben ihn verlassen, da nehmen sich die Wissenschaftler seiner an. Staub wird zum Objekt wissenschaftlichen Interesses. Er wird analysiert, auseinander genommen, eingeordnet. Das Unergründliche der Materie wird ergründet. Staub wird differenzierter gesehen – aber das hebt sein Ansehen nicht.
Staub gilt weiterhin als Zeichen von Kriegen, Krisen und Konflikten, da er von zerbombten Häusern, Luftschutzkellern und vom Feldstaub der Flüchtlingszüge stammt. Den Staub zu bekämpfen heißt auch für eine bessere Welt zu sein: Staubfrei ist die Steigerung von dreckfrei. Der Staubwedel der deutschen Haushalte bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts ist ein Zeichen von Luxus und Gepflegtheit.
Doch auch nachdem die Hochphase des Kehraus vorbei ist, wird der Staub kulturell nicht aufgewertet. In den jüngsten Jahren hat es ihn noch härter getroffen. Der Mensch ignoriert ihn jetzt. Die Staubwedel werden bestenfalls noch im Karneval geschwungen, an den Regalen und Gardinenstangen sind sie fast gar nicht mehr gesehen. Sauber und ordentlich sein ist durchaus noch vertretbar und meist sogar erwünscht. Aber völlig staubfrei? Das hört sich nach Versuchslabor oder Reinheitsfimmel an, das riecht nach Udo Jürgens’ „Bohnerwachs und Spießigkeit“. Auf einmal gibt es neue Verbündete: Die Hausfrauen und der Staub, bislang ärgste Feinde, werden von unhilfsbereiten Gatten und emanzipierten Töchtern gemeinsam an den Rand der Gesellschaft gefegt – ein Ende der Diskriminierung beider ist nicht abzusehen.
Die Geschichte des Staubes ist eine Geschichte von Unrecht und Undankbarkeit. Schließlich machen die tanzenden Körnchen in den gotischen Kathedralen die Schönheit des Lichts erst sichtbar. Und ohne den Staub könnte der Mensch die Glasfenster für die einfallenden Sonnenstrahlen gar nicht herstellen. Viele kostbare Materialien müssen zu Staub zerkleinert werden, damit man sie nutzen kann. Überall um den Menschen herum ist guter Staub. Aus Pigmentstaub entstehen die Farben für Bilder und für die Stoffe seiner Kleider. Staub hilft dem Menschen bis auf die Haut und darunter: Puderstaub überdeckt die Spuren der durchfeierten Nacht, Talkumstaub verhindert Schweißgeruch, und medizinische Pülverchen kämpfen gegen den Kater. Also Vorsicht: Wer den Staub erniedrigt, der unterschätzt ihn.
Staub hat Macht. Er kann Licht brechen, er verdunkelt das Spiegelbild, und er zerstört die Errungenschaften der modernen Technik, wenn er bis zu den Herzen der Computer vordringen kann. Nach jahrtausendelanger Beleidigung schlägt der Held des Mikrokosmos zurück. Die neuen Staube gelten als Feinde des Lebens. Aus der Industrie stammen die giftigen Staube, im Staub der sich immer weiter ausbreitenden Wüsten kann nichts mehr wachsen. Heute steht Staub für Umweltverschmutzung und für die drohende Klimakatastrophe. Schuld daran ist der Mensch selbst. Wäre er nur mal netter gewesen.
Völlig unerwartet kommt jetzt aus Amerika, dem Land der Puritaner und Saubermodels, eine glühende Verteidigung. In Joseph A. Amato hat der Staub einen Liebhaber gefunden. Amato widmet der Entdeckung des Kleinen und Unsichtbaren eine eigene Kulturgeschichte.
Mit seinem Buch „Von Goldstaub und Wollmäusen“ wertet er die Welt des Winzigen auf und eröffnet das Königreich des Staubes. Er zeigt uns, wo Staub überall dabei ist: bei den unaufhörlichen Gezeiten, beim Werden und Vergehen der Dinge und als tödliche Macht in den Mikroben. Vier Milliarden Staubpartikel entstehen bei einem Zug an der Zigarette. Amatos verstaubter Atlas meint es manchmal fast zu gut mit dem Staub. Seine persönlichen Überlegungen, Assoziationen und Geschichten sind von lustig bis faszinierend, seine allzu wissenschaftlich gemeinten Ansätze oft etwas sehr weit hergeholt. Amato wirbelt viel Staub auf. Der wird es ihm danken.
Joseph A. Amato: „Von Goldstaub und Wollmäusen. Die Entdeckung des Kleinen und Winzigen“. Aus dem Amerikanischen von Harald Höfner und Brigitte Post. Europaverlag, Hamburg/Wien 2001, 252 Seiten, 18,66 €JUDITH LUIG, 27, wurde mit sechs Jahren von ihrem ersten Verehrer verlassen, weil es bei ihr zu Hause aussieht wie bei Hempels unterm Sofa, und möchte ihm auf diesem Wege sagen: Hauke – du Waschlappen!
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