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Was ist Heimat

Über Dortmund, kölsche Plörre und Neukölln

von STEFFEN GRIMBERG

So gut wie nichts hat Heimatfilmidylle mit Idylle oder Heimat zu tun, verrät bei aller Verkitschtheit aber eine gewisse Sehnsucht nach Heimeligkeit und Unterordnung unter eine Führerfigur, die gleichermaßen autoritär wie onkelhaft daherkommt: „Nur wenige Dinge sind für die Mentalität eines Volkes bezeichnender als die Filmgenres, die es pflegt“, schreibt das rororo-Filmlexikon.

Wie aber geht dann Heimat? – Heimat fängt in Hamm/Westfalen an und hat mit Autorität oder Unterordnung rein gar nichts zu tun. Fragen nach Vaterland, Nation oder der mythischen Blut-und-Boden-Scholle wären in Dortmund völlig abwegig. Die alte Handelsstadt ist vielmehr das Tor zur Heimat, der letzte Halt, den man von Berlin kommend zu absolvieren hat und den die Deutsche Bahn AG deswegen auch zelebriert: In Hamm/Westf., wie es auf Bahndeutsch heißt, wird unser Zug geteilt. Und das bedeutet auch im ICE-Zeitalter eigentlich unfassbar langwierige zehn Minuten Aufenthalt.

Eine Atempause, ein Übergang vom Weg aus der Hauptstadt in die Heimat, ein retardierendes Element, das sagt: Wenn du in Hamm/Westf. frierend und klamm im Nieselregen auf dem Bahnsteig stehst und überlegst, ob die Zeit ausreicht, einmal vom hinteren Gleis unter all den anderen Bahnsteigen hindurch in die Vorhalle zum Bäcker zu rennen, bist du fast schon da. Der nächste Halt ist Heimat.

Heimat, das ist Dortmund. Und manchmal auch das ganze Ruhrgebiet. Die Faustregel ist furchtbar einfach: Je weiter man von der Heimat entfernt ist, desto größer wird sie. Von Peking aus gesehen, lockt das Ruhrgebiet, von Hannover betrachtet ist nur Dortmund meine Heimat. Berlin hält tückische Distanz: Es liegt irgendwo dazwischen.

Und Dortmund? Dortmund ist weder Weltstadt noch schön. Und wenn nach der üblichen Beraterlogik funktionierende Menschen der ganzen Region zwecks angeblich notwendiger Imagepolitur auswärts so originelle Sprüchlein wie „Der Pott kocht“ anhängen dürfen, schaudert’s uns. Aber so wichtig ist das wiederum auch nicht.

Vielleicht macht das die Heimat Dortmund aus: Sie nimmt sich nicht so wichtig. Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist nicht die nach dem Ende der Kohle- und Stahlindustrie quasi erzwungene Bescheidenheit zwischen Ruhr und Emscher gemeint. Der Verlust von Industrie und Arbeitsplätzen gehört vielmehr zur Heimat dazu.

Wer um die dreißig ist und langsam gemütlich wird, kennt das Ruhrgebiet nur in diesem Zustand, der offiziell Strukturwandel heißt. Für falsche Bescheidenheiten ist da kein Platz.

Aber wichtig, wichtig nimmt sich die Heimat deswegen auch nicht. Und wir schauen amüsiert Richtung Westen, am liebsten bis ins altehrwürdige Köln, wo der heimatverbundene Rheinländer jedem Neuzugang erzählt, wie sie damals den Dom erfunden und danach mit bloßen Händen den Rhein gebuddelt haben: „Komm bei misch bei“, und – zack – sitzt man bei einem dieser merkwürdig dünnen Biere, lauscht dem Lokalpathos und könnte doch auch jemand ganz anderes sein. Heimat hat nämlich nichts mit stolzgeschwellter Brust zu tun. Heimat wirkt aus sich heraus, und wenn jemand tatsächlich stolz auf die Kathedrale mit ihrem todhässlichen Betonsockel ist: bitte sehr.

Dortmund hat dagegen wenig Höhepunkte, was jeder merkt, der schon einmal für Auswärtige, am liebsten internationale Gäste, etwas aus der Kategorie „Andenken“ organisieren musste. Was das mangels Fremdenverkehr (wie wir früher Tourismus genannt haben) in Dortmund Presse-und Informationsamt geheißene Büro da anbietet, treibt mir Tränen der Rührung ins Gesicht.

Gut, da ist ein Ballspielverein, der seit Jahren relativ weit oben mitspielt und sogar sich gerade mal wieder gar nicht schlecht in die Winterpause gerettet hat. Doch der interessiert mich – nur auswärts. Mit der Entfernung von Dortmund nimmt mein Interesse am und mein Wissen über den BVB 09 proportional zu. In Berlin reicht’s für den Tabellenplatz, säße ich in Moskau, würde ich mir vermutlich endlich mal die Spielernamen merken.

Heimat in Dortmund sind Alltäglichkeiten – nicht einmal das Bier gehört dazu. Und auch wenn Max Frisch in seinen Tagebüchern fragt: „Welche Speisen essen Sie aus Heimweh (. . .) und fühlen Sie sich dadurch in der Welt geborgener“. Deshalb rennt niemand durch Berlin auf der Suche nach DAB oder anderen Scheußlichkeiten, die aber natürlich zur Heimat irgendwie dazugehören. (Hansa haben sowieso immer nur die anderen getrunken.)

Heimat in Dortmund ist Karstadt an einem Samstagvormittag, wenn man vom Markt kommt und mit sechs Tüten behangen irgendwo hängen bleibt und sich der Gemüsesegen vor die Rolltreppe ergießt. Überhaupt dieser Markt: Karl und Heinz und all die anderen Händler („Marktbeschicker“, sagt die Marktordnung), die man natürlich nie mit Vornamen anreden würde. Oder mein Geflügelhändler, bei dem die Fasane und Wildenten noch unter zwanzig Mark kosten (Warum sträube ich mich eigentlich, in einem Heimatstück „zehn Euro“ zu schreiben?), und den ich auch aus Berlin anrufen kann, um die Gans fürs nächste Wochenende zu bestellen. Ohne den Namen angeben zu müssen. „Ich erkenn Sie doch an der Stimme“, sagte die junge Frau am anderen Leitungsende: Heimat.

Heimat geht auch abstrakt: Ich muss nicht jedesmal ins „Bass“, das nach der englischen Biersorte heißt, die es dort schon seit Jahren nicht mehr gibt. Aber das beruhigende Gefühl, ins „Bass“ zu können, wenn ich wollte, auf ein Bier bei Heinz, dem schnellsten Wirt der Welt – das ist genauso Heimat wie das Warten auf die im Innenstadtbereich verbuddelte Straßenbahn, die sich mit durchsichtigem Stolz U-Bahn nennt. Und verdammt selten fährt, wenn man Berlin als Maßstab nimmt.

„Heimat, die (Plural ungebräuchlich): Wo jemand zu Hause ist, Land, Landesteil oder Ort, in dem man (geboren und) aufgewachsen ist oder ständigen Wohnsitz gehabt hat und sich geborgen fühlt oder fühlte“: Die Dudendefinition stimmt – die Eltern leben in Dortmund, den Rest der Familie hat es bis nach Bochum verschlagen. Im Grunde ist ja bei uns alles Ruhrpott.

Und doch kann man ein Stück Heimat auch mitnehmen: in Gegenden, die ähnlich sind. Weshalb einem Glasgow und die heruntergekommen Wohnbereiche, die Tennements der Altstadt, selbst dann wie ein Stück Zuhause vorkommen, wenn man die Bewohner höchstens halb versteht. Weshalb sich nebenan in Edinburgh nach kurzer Zeit das Münster-Feeling einstellt und man sich wie in einem Freilichtmuseum vorkommt. Und weshalb es sich in Berlin gut aushalten lässt. Vor allem, wenn man in Neukölln wohnt.

STEFFEN GRIMBERG, 33, Medienredakteur der taz, trank beim Verfassen dieses Artikels eine Flasche Berliner Pilsener und fühlte sich auch mit dieser Biersorte behaglich

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