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Leben aus Tüten

Vor allen anderen am Start: Mit den 11. Tanztagen in den Sophiensälen beginnt das Theaterjahr schwungvoll. Im „Auftaktmix“ sorgten drei Choreografen für eine lange Tanznacht. Ein kleiner weißer Hund war auch dabei

Körper im Gedränge. Wintermäntel dick, Filzmützenschick. „Schönes neues Jahr!“ Alle Plätze weg? Kissen auf dem Fußboden, Beine schlafen ein, zu viel Weihnachtsspeck. Tanztage Berlin. Das wird langsam zum Ritual für den Beginn des Januar.

Körper in der Leere. Zugiger Platz ohne Konturen. Keine Geborgenheit, kein Halt. Warm haben es nur die Würstchen auf dem Rost. Lächeln gibt es im Kaufhof, mit und ohne Haftcreme. Mitten im Unbehausten, wo niemand und nichts mehr wiedergibt, was ich bin, beginnt „Alexanderplatz“, eine Studie über die „Stadt im Körper“ des aus Brasilien stammenden Choreographen Aloiso Avaz. Barbara Friedrich, die die Tanztage seit ihrer Gründung betreut, hat Avaz soziales Tanztheater für den „Auftaktmix“ mit zwei abstrakten Stücken von Holger Bey und Christoph Winkler zusammengespannt, um gleich die Spannbreite des zeitgenössischen Tanzes anzudeuten.

Früher hätte man „Alexanderplatz“ eine Milieustudie genannt: Von Vergessenen und Ratlosen handelt das Stück, die sich so fühlen wie das liegen gebliebene Fahrrad im Gebüsch. Vom Leben aus Tüten, von Pennern und Einkaufsjunkies, von Punks und Prostituierten und von Anzugträgern, die wie blind in all dem ruppigen Gewusel schlafwandeln. Und von einem kleinen weißen Hund, der als Einziger stets weiß, zu wem er gehört.

Doch über all diese mit fleißiger Beobachtungsgabe gesammelten Fundstücke kam „Alexanderplatz“ nicht recht hinaus. Wie die Stadt selbst dort von den Körpern Besitz ergreift, wo die Architektur ihnen keinen Schutz mehr bietet, wie sich in der Formlosigkeit des Raumes das eigene Selbst verflüchtigt und ruppige Abwehrstrategien gegen den Sog des Nichts ausgebildet werden, das war nur gerade so eben zu spüren.

Avaz versuchte das Heute in der konkreten Verortung seines Stückes dingfest zu machen; Holger Bey und Christoph Winkler dagegen suchen Gegenwärtigkeit in der fein geschliffenen Rhetorik einer tänzerischen Sprache, bemüht um Differenzierungen und dialektische Spannungen. Holger Bey ist Dozent für Choreografie und Improvisation an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, an der Christoph Winkler studiert hat. Winkler ist ein Stammgast der Tanztage, der dort viele Entwürfe zu späteren Stücken gezeigt hat.

In seiner letzten Produktion „Berst“ hatte Winkler seine komplexen Formen einem riskanten Test ausgesetzt: Den Kontext des Tanzes bildeten biografische Erzählungen, aber nicht, um im expressiven Gestus aufzugehen, sondern um die Trennung und Brüche zwischen innerer Emotion und äußerer Bewegung zu thematisieren.

In „Apparat“, seinem neuen Stück für die Tanztage, kehrt er wieder zum Minimalismus einer Laborsituation zurück, die ihr Untersuchungsobjekt aus allen Bezügen losgelöst hat. Vier Tänzerinnen gehen an den vier Seiten eines Quadrates auf und ab wie die Wächterinnen an der Grenze zwischen Kunst und Leben. Nacheinander treten sie in die leere Fläche ein, deren Raum sie mit ihren Bewegungen erst schaffen. Die Musik aus Bass und schrillen Schreien wiederholt sich, die kalligrafischen Figuren, die sich mit vielen gegenläufigen Bewegungen und konträren Impulsen da hineinschrauben, verändern sich. Ein wenig fühlte man sich da wie bei einer choreografischen Alphabetisierungskampagne, wo die Unterscheidung von langen und kurzen Bögen, einfachen und doppelten Häckchen das Fassungsvermögen übersteigt.

17 Produktionen sind für die Tage bis zum 17. Januar angekündigt, wieder mit vielen jungen Choreografen und von Künstlern, die noch nicht lange in Berlin arbeiten.Verwundert und erleichtert stellt man jedes Jahr wieder fest, dass das Konzept Wundertüte funktioniert. Eine kleine Delegation des Tanzensembles aus der Schaubühne, die in den Sophiensälen angefangen haben, genoss die entspannte Atmosphäre der Tanztage. Hier wird frei von Erfolgsdruck gesammelt, was die Szene hergibt.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Tanztage bis zum 17. Januar, in den Sophiensälen, Sophienstraße 18, Mitte

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