: Ankunft in der Weltpolitik
aus Hargeisa BETTINA GAUS
„Fahr doch vorsichtig!“ Ahmed Ibrahim hat Angst vor einem Sturz in die Tiefe. Dabei ist die Gebirgsstraße mit Leitplanken gesichert und er selbst ein Mann, der in vielen gefährlichen Situationen seinen Mut bewiesen hat. Aber er hat niemals Berge aus der Nähe gesehen. Einen Führerschein besitzt er auch nicht. Wo hätte er ihn machen sollen? Seit mehr als zehn Jahren lebt der Dreißigjährige innerhalb der festen Mauern eines gut bewachten Geländes, das er nur mit bewaffnetem Begleitschutz verlassen kann.
Ahmed Ibrahim ist der somalische Projektleiter des SOS-Kinderdorfes in Mogadischu, des nahezu einzigen ausländischen Hilfswerkes, das seine Arbeit in den Wirren des Bürgerkrieges niemals eingestellt hat. Respekt und Anerkennung hat sich die Organisation mit dieser Ausdauer bei vielen Bewohnern der Hauptstadt verdient. Vor versuchten Entführungen und Überfällen marodierender Milizen sind jedoch auch ihre Mitarbeiter nicht geschützt.
Eine Welt voller Wunder
Jetzt ist Ahmed Ibrahim mit dem Flugzeug ein paar hundert Kilometer nach Norden gereist, nach Somaliland. Dort baut SOS in der Nähe des Ortes Scheik ein Internat wieder auf, das einst als Eliteschule der Region galt. Der Projektleiter aus Mogadischu will sich über die Fortschritte informieren – und betritt gleich nach der Ankunft in der Stadt Hargeisa eine Welt voller Wunder, die andere für Selbstverständlichkeiten halten.
„Merkwürdiges Gefühl, hier einfach so in Ruhe sitzen zu können“, meint er in einem kleinen Cafe. „Unglaublich, diese Freiheit“, sagt er abends im Restaurant angesichts von vier Frauen am Nebentisch ohne männliche Begleitung. Auf den Straßen sind keine Waffen zu sehen. Polizisten regeln mit Trillerpfeifen den Verkehr. Jugendliche bieten Tageszeitungen feil. Sorglos und entspannt kann Ahmed Ibrahim hier über einen Markt schlendern, auf dem Kleider, Elektrogeräte und Spielzeug angeboten werden. Der Krieg scheint sehr weit weg zu sein.
Die Region gehört nicht mehr zu Somalia, jedenfalls nicht nach dem Verständnis der hiesigen Bevölkerung. Schon im Mai 1991, wenige Monate nach dem Sturz des Diktators Siad Barre, hatte sich der Nordwesten des Landes für unabhängig erklärt und die Republik Somaliland mit der Hauptstadt Hargeisa ausgerufen. Völkerrechtlich anerkannt wurde die Sezession niemals, obwohl sie sich durchaus mit dem Grundsatz der Organisation für Afrikanische Einheit in Übereinstimmung bringen ließ, koloniale Grenzen für unverletzlich zu erklären. Das Territorium von Somaliland war einst britisches Protektorat und wurde 1960 vier Tage vor dem italienisch beherrschten Süden unabhängig. Erst kurz danach schlossen sich beide Teile des Landes zu einem gemeinsamen Staat zusammen.
Emotionen spielten im Zusammenhang mit der Abspaltung eine ebenso große Rolle wie pragmatische Überlegungen. Siad Barre hatte sich 1988 für militärische Erfolge der Guerillabewegung aus dem Nordwesten blutig an der Zivilbevölkerung gerächt. Damals war Hargeisa in Schutt und Asche gebombt worden. Viele Bewohner von Somaliland wollen sich jetzt niemals mehr von Mogadischu aus regieren lassen, auch nicht von einstigen Gegnern des Diktators. Die Sezession war seinerzeit aber auch mit der Hoffnung verknüpft, nicht in den zerstörerischen Machtkampf des Südens hineingezogen zu werden, in dem ein viel komplizierteres Gefüge rivalisierender Interessen herrscht als in Somaliland.
Diese Hoffnung hat sich – bisher – erfüllt. Ohne ausländische Truppen und Fernsehkameras gelang es, eine Regierung zu bilden, die sich zunächst der Unterstützung des größten Teils der Bevölkerung sicher sein konnte. Im Mai letzten Jahres hat das Parlament eine Verfassung verabschiedet. In einer angesehenen südafrikanischen Reisezeitschrift ist kürzlich sogar ein Bericht über Somaliland als mögliches Touristenziel erschienen. Aber wie lange werden die Verhältnisse so erfreulich bleiben?
„Niemand will einen Bürgerkrieg. Aber wir könnten in einen hineinschlittern“, sagt Suleiman Adan. Er hatte schon einige Kabinettsposten unter Präsident Ibrahim Egal inne. Heute aber ist er sein erbittertster Gegner – er möchte inzwischen selbst Präsident werden. Unter der scheinbar so ruhigen Oberfläche des Alltags in Somaliland gärt es. Für Außenstehende sind die Kräfteverhältnisse der verschiedenen Lager ebenso schwer einzuschätzen wie die Qualität ihrer Argumente. Fest steht: Alle Seiten erläutern ihre jeweiligen Motive auf eine Weise, die dem Demokratieverständnis westlicher Industrienationen entgegenkommt. Mit der politischen Realität muss das in diesem Teil der Welt nicht zwangsläufig etwas zu tun haben.
Todsünde Wiedervereinigung
Eigentlich hätten in Somaliland demnächst Wahlen stattfinden müssen. Aber der Präsident hat sich seine Amtszeit vom Oberhaus des Parlaments um zunächst ein Jahr verlängern lassen. Es gelte, ein Machtvakuum zu verhindern, sagt sein Erziehungsminister Ahmed Yussuf Dualeh. Er verweist außerdem darauf, dass eine mögliche Verlängerung der Amtszeit von der Verfassung ausdrücklich vorgesehen ist.
Klingt alles gut. Der Minister erwähnt allerdings nicht, dass dies nur für den Fall einer akuten Bedrohung der Stabilität des Landes gilt – und die Regierung ja gerade auf die Ruhe im Land besonders stolz ist. Ibrahim Egal klebt einfach an seinem Amt, meinen dagegen seine Gegner. Sie werfen ihm Vetternwirtschaft vor – sowie die politische Todsünde, heimlich die Wiedervereinigung mit Somalia anzustreben. Er wolle Präsident des ganzen Landes werden. „Wir möchten die Macht nicht militärisch erringen, sondern auf demokratische Weise“, betont Suleiman Adan. „Deshalb werden wir einen Nationalkongress unter Beteiligung aller politisch wichtigen Kräfte des Landes abhalten.“ Das klingt ebenfalls gut. Ist jedoch von der Verfassung nicht vorgesehen.
Die brisante Situation wird durch die politische Großwetterlage verschärft. Somaliland verfügt nicht über Reichtümer. Die vielversprechendste Geldquelle ist der Hafen von Berbera, aber nicht einmal dort ist viel los, seit die arabischen Staaten einer angeblichen Seuche wegen kein Vieh aus der Region mehr importieren. Die Straße zwischen Hargeisa und Berbera ist ein Dorado für Rennfahrer – Lastwagen, die angehenden Geschwindigkeitsrekordlern hinderlich werden könnten, verkehren kaum. „Der Viehhandel war unsere einzige Einnahme. Eine andere fällt mir derzeit nicht ein“, erklärt Hassan Mohamoud, der Bürgermeister von Berbera.
Einen traurigen Eindruck macht er dennoch nicht. Offiziell sei ihm noch keine Mitteilung gemacht worden, „aber die Leute sagen, dass die Amerikaner kommen“, erklärt er mit leuchtenden Augen. Die Bevölkerung sei begeistert: „Sie glauben, dass die internationale Gemeinschaft damit endlich die Existenz eines unabhängigen Staates Somaliland anerkennt.“
Das muss es eigentlich nicht bedeuten. Wohl aber eine mächtige Unterstützung für die gegenwärtige Regierung und ihre Repräsentanten. Sollten US-Truppen tatsächlich in Berbera einen Marinestützpunkt errichten, dann dürften sie kaum tatenlos einem bewaffneten Aufstand gegen den Präsidenten zusehen, der sie angeblich herzlich eingeladen hat. Derzeit kann oder will niemand in Hargeisa bestätigen, dass Ibrahim Egal das tatsächlich getan hat. Aus der Luft gegriffen erscheint die Möglichkeit dennoch nicht. Im Kalten Krieg, als Washington in Siad Barre einen wichtigen Verbündeten am Horn von Afrika sah, hatten die Vereinigten Staaten in Berbera einen riesigen Militärstützpunkt errichtet. Somaliland ist bisher von Verdächtigungen terroristischer Umtriebe verschont geblieben, wie sie gegen manche Organisationen und Politiker im Süden erhoben werden. Geografisch wäre die Lage der Hafenstadt am Golf von Aden für alle derzeit erörterten US-Militäroperationen günstig, zumal es im benachbarten Dschibouti angesichts starker französischer und jetzt auch deutscher Truppenpräsenz eng zu werden droht.
Sollten US-Schiffe tatsächlich in Berbera einlaufen, kann das alles mögliche bedeuten – ganz sicher aber würde die Opposition in Somaliland dadurch geschwächt. Entsprechend fällt deren Reaktion aus: „Wir heißen sie nicht willkommen“, sagt Suleiman Adan. „Es gibt keinen Grund für sie, hierher zu kommen.“ Noch deutlicher wird der Anwalt Robleh Michael. „Das wäre Imperialismus, nichts sonst. Wenn ein diktatorisches Regime versucht, sich uns aufzudrängen, dann müssen wir über Dschihad sprechen.“ Dschihad: Das bedeutet nach Ansicht von Robleh Michael nicht etwa einen religiös motivierten Krieg, sondern einfach den Kampf gegen Unterdrücker.
„Wir sind keine Feiglinge“
Der muslimische Rechtsanwalt ist ein prinzipienfester Mann. Dreimal saß der Sohn eines zum Katholizismus konvertierten Unabhängigkeitskämpfers unter Siad Barre aus politischen Gründen im Gefängnis, und er hat die Folter von dessen Schergen überlebt. „Wollen Sie etwa, dass wir uns wegducken?“ Angesichts der möglichen Folgen anderer Verhaltensweisen wäre das vielleicht keine schlechte Idee. Blanke Verachtung spricht aus seinem Blick: „Wir sind keine Feiglinge.“
Und die Erfolgsaussichten? „Wenn der Dschihad die Unterdrückung bekämpfen will, wird er Erfolg haben. Wenn er nur politischen Zwecken dient, muss er fehlschlagen.“ Dann wird der Oppositionspolitiker ein bisschen konkreter: „Wenn man Berbera nicht hermetisch abriegelt, also selbst die Nomaden an jeder Bewegung hindert, dann lässt sich ein Guerillakrieg durchaus führen.“
Robleh Michael weiß, wovon er spricht. Immerhin war er einer der ranghöchsten Vertreter der Guerillabewegung gegen Siad Barre. Jetzt hat er ein neues Ziel vor Augen: Auch er will Präsident von Somaliland werden. Und wie steht er zu Suleiman Adan? Zunächst einmal seien sie einig in ihrem Ziel, Präsident Egal von der Macht zu vertreiben. Dann werde man weitersehen.
Das erinnert an die Lage in Mogadischu zu Beginn der Neunzigerjahre. Damals wollte die Opposition auch erst einmal Siad Barre loswerden und sich erst später über die Aufteilung der Macht einigen. Das ist ihr bis heute nicht gelungen.
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