: Verfilmtes Luftholen
Aus seinem Frankfurter Exil versucht der afghanische Kameramann Nur-Aqa Scherzai seiner Heimat zu helfen. Mit Echtzeitdokumentationen, die unter die Haut gehen. Ausgestrahlt werden seine ungewöhnlichen Bilder im Offenen Kanal
von HEIDE PLATEN
Verängstigte Kinder mit großen Kulleraugen, verhärmte Frauen, Elendsbilder aus dem kargen Niemandsland der afghanischen Flüchtlingslager. Fernsehalltag eben, alles schon gesehen. Kameramann Nur-Aqa Scherzai dagegen hat seinen eigenen Blick, er schaut nicht kurz hin, sondern sieht mit langem Atem. Die Einstellungen sind gnadenlos beharrlich, die Blickwinkel auf das Leiden verstörend ästhetisch.
Seine Filme sind seltsame Echtzeitdokumentationen, die unter die Haut gehen und den Betrachter lange nicht loslassen. Die Menschen sind nicht Objekt der Objektive, sondern kommen zu Wort. Man versteht sie, auch wenn ihre Sprache fremd ist. Situationen, Gestik, Mimik korrespondieren, erschließen sich selbst. Scherzai kommentiert nicht. Sein Publikum ist klein und exklusiv: die Community der im Exil lebenden Afghanen. Sein Medium ist randständig: der Offene Kanal in Offenbach.
Alles im großen Wohnzimmer ist gediegen: die dunkelroten Orientteppiche, die gerafften Gardinen, der Tisch mit den goldenen Messingbeinen, die schwere Ledergarnitur, in der die Besucher fast versinken. Nur-Aqa Scherzai lebt im Frankfurter Stadtteil Bockenheim, dicht neben der Universität. Er ist ein zierlicher Mann, wirkt auch in legerer Freizeitkleidung, roter Strickweste, dunklem Rollkragenpullover, elegant. Er redet schnell, manchmal aufgeregt, immer freundlich, aber auch leidenschaftlich.
Seine Heimat ist Afghanistan – und das, sagt er, könnte „ein Paradies sein“. Aus dem ist er 1981 nach dem Einmarsch der UdSSR geflohen, zusammen mit seiner Frau und der ältesten Tochter, die damals gerade sieben Monate alt war. Sie zogen über die Berge. Mit dem Esel, zu Fuß, manchmal ein Stück weit von Lastwagen mitgenommen. Scherzai, Sohn einer wohlhabenden Familie, hatte als Kameramann für das Fernsehen in Kabul gearbeitet. Als Muslim hatte er mit dem Führer der fundamentalistischen Hisb-i Islami, Gulbuddin Hekmatjar, in Peschawar sympathisiert. Der aber ließ dort reihenweise eigene Gefolgsleute umbringen: „Das wollte ich nicht mitmachen.“ In Pakistan kaufte er gefälschte Papiere und flog von Karatschi direkt nach Frankfurt am Main. Nach wenigen Monaten war sein Antrag auf politisches Asyl anerkannt. Vier Kinder sind in Deutschland geboren, keines von ihnen hat das verlorene Paradies Afghanistan bisher gesehen.
Scherzai hat 1988 begonnen, Spenden zu sammeln und wieder nach Afghanistan zu reisen, immer die Digitalkamera im Gepäck. Er kam 1992 wieder, dann 1995, 1999, 2000, 2001. Jedes Mal sammelte er hunderte Stunden Filmmaterial: „Das ist mein Beruf!“ Die Filme zeigen, wie die Spenden verteilt werden.
Scherzai lichtete alles akribisch ab, sozusagen als Spendenquittung, Beweis dafür, dass das Geld direkt bei den Empfängern angekommen ist. Er verteilt es selbst: „Das gebe ich nicht aus der Hand.“ Die kleinen Päckchen sind mit Banderolen oder Gummibändern gebündelt. Nach Namenslisten erhalten alle etwas, Frauen und Männer, Alte und Kinder. Da sind Lehrerinnen, die seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen haben, junge Witwen mit kleinen Kindern. Fast ratlose Gesichter, Verwunderung, Misstrauen, als hätten sie lange schon kein Geld mehr gesehen. Scherzai filmt Verlegenheit, tiefes Luftholen, langsames Lächeln. Er filmt Banalität und Wert des Geldes. Jedes Häufchen Geld bedeutet ungefähr den Lebensunterhalt für einen Monat, umgerechnet gut 100 Euro. Geld ist leicht zu transportieren, gut zu verstecken. Es gibt den Menschen Hoffnung und Sicherheit, sagt Scherzai. Das letzte Mal reiste er im Juli 2001 und erlebte die Ermordung des Nordallianz-Führers, Ahmad Schah Massud, am 9. September hautnah mit. Den Anschlag auf das World Trade Center zwei Tage später sah er im Fernsehen: „Das waren dieselben Leute, das war derselbe Plan.“
Der Mord an Massud ist Scherzai nahe gegangen: „Ein guter Mann!“ Er springt vom Sofa auf und spielt vor, wie einer der beiden arabischen Attentäter, als Journalist getarnt, sich während des Interviews mit Massud zur Seite drehte, seine im Batteriegürtel versteckte Bombe zündete: „Überall Blut, nur kleine Stücke, wie Steaks an den Wänden.“
Er selber kam dazu, als der schwer verletzte Massud von Helfern aus dem Haus gebracht wurde. Scherzai zeigt Bilder, die er nach dem Anschlag aufnahm. Ein ausgebrannter Raum voller Trümmer, mittendrin steht Massuds leerer brauner Sessel. Scherzai filmte nicht die Prominenz, sondern Massuds 14-jährigen Sohn, der bei der Trauerfeier daneben steht und die Lobesreden auf seinen toten Vater anhört. Scherzai hält sein Gesicht minutenlang fest, auch die verstohlenen Tränen hinter dem Taschentuch. Im Frühjahr wird Nur-Aqa Scherzai wieder in seine Heimat reisen.
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