ulrike winkelmann über Golf
: Die ewige Pubertät

Das Langzeitstudium ist beendet. Leider nicht ganz: Man muss weiter Korrektur lesen und bei Umzügen schleppen

Als ich wenige Monate nach dem Examen auch die Stadt verließ, hoffte ich wirklich, dass damit zwei besonders anstrengende Kapitel des Langzeitstudiums beendet wären: das Korrekturlesen und das Umziehen. Das Korrekturlesen der Examensarbeiten anderer Leute und die samstägliche Umzugshilfe wetteifern miteinander um den Rang, der größte Fluch des studentischen Miteinanders zu sein.

Es stellte sich jedoch heraus, dass allein dadurch, dass ich Hauptbeschäftigung und Lebensumfeld tauschte, weder das eine noch das andere erledigt war. So ließ die Umzugsfrequenz meiner Bekannten in Berlin nicht etwa nach, sondern nahm sogar noch zu, womit widerlegt wäre, dass Studierende häufiger umziehen als Nicht-mehr-Studierende.

Im Gegenteil, ich würde behaupten, dass der Statuswirrwarr nach dem Studium die Umzugsfreudigkeit sogar noch steigert. Was dazu führt, dass man an jedem zweiten Samstag jeweils um elf Uhr irgendwo in der Stadt sperrige Dinge aus Lieferwagen mit hoher Ladefläche zerrt und durch Hinterhöfe und Treppenhäuser trägt, wobei man sich an kleinen Nägeln, die aus Schrankrückwänden ragen, die Handflächen aufreißt.

Das jüngste Umzugsereignis wurde von meiner Freundin F. unter das Motto „Auf Findus achten!“ gestellt. Wir waren angetreten, gute hundert Kubikmeter Einrichtung aus der Wohnung zu tragen. Dabei allerdings sollte jedeR nach jeder Kiste sofort die Wohnungstür hinter sich schließen, damit der Kater, ein Stubentier, dass draußen sofort Orientierung und Leben verlöre, nicht entwischt. Wir wiesen darauf hin, dass dies unsere Manövrierfähigkeit enorm einschränke, so dass F. dann doch erst einmal Findus suchte. Sie fand ihn nach einer guten halben Stunde. Er hockte, günstigerweise durch den Menschenauftrieb längst gelähmt vor Angst, unterm Schrank und schien an Weglaufen nicht mehr zu denken.

Genauso wenig wie das Umziehen hat das Korrekturlesen ein Ende: Weil ja nicht alle in die Medien gehen können und die Neue Ökonomie schon eine Saga aus längst vergessenen Tagen ist, das offizielle Berufergreifen also weiterhin absurd erscheint, schreiben nun die meisten meiner Bekannten an Doktorarbeiten. Und die ersten werden auch schon wieder fertig.

Die Doktorarbeit hat im Unterschied zur gemeinen Magisterarbeit weit über 300 Seiten. Das ist schlimm, wird aber dadurch kompensiert, dass die Doktorarbeit immerhin vom Autor selbst fertig geschrieben wird. Kein nächtliches Tippen mehr von Einleitung und Schluss, zu viert an zwei Computern, mit anschließend gemeinsam erlebtem Druckerabsturz.

Andererseits hat die Doktorarbeit eine vierstellige Zahl von Fußnoten. Jeder weiß, dass Fußnoten-Korrekturlesen noch viel kraftraubender ist als das Haupttext-Korrekturlesen. Das liegt an den vielen Punkten, Kommas, Klammern und Semikolons und etwa an dem alten Streit, ob „ebenda“ als „ebd.“ großgeschrieben wird oder nicht. Solche Fragen muss der Autor der Doktorarbeit eigens in einem Korrekturleitfaden klären, den die Brigade der KorrekturleserInnen zu befolgen hat – auch wenn man selbst anderer Meinung ist. Ich zum Beispiel würde „ebd.“ immer kleinschreiben.

Anders mein Freund T., dessen Arbeit über Ernst Jünger und Heiner Müller mich neulich tagelang beschäftigte. Er schreibt Ebd. ebenso wie Vgl. groß, und wer allein vier Wochen dem nochmaligen Abgleich abgeschriebener Zitate mit den Originaltexten widmet, dem wird nicht widersprochen. Zumal T. immer mehr Symptome der Überreizung aufwies. Er entschuldigte sich bei einem Besuch dreimal dafür, dass er ein 80er-Jahre „Fruit of the Loom“-Sweatshirt trug, und ließ sich auch nicht damit trösten, dass die Dinger gerade wieder angesagt sind – ein Umstand, der mich alarmierte.

In einer ausgeglicheneren Minute jedoch beschloss T., mich für das Korrekturlesen dadurch einzunehmen, dass er mir Fundstücke seiner Forschung präsentierte. Zum Beispiel Zeichnungen aus Ernst Jüngers Kriegstagebüchern. Jünger, knapp über 20 Jahre alt, hatte im Schützengraben nicht nur aufgeschrieben, wie sich unterschiedliche Geschosse anhörten, und dabei einen schönen Beitrag zur Comicsprachkultur geleistet („Brrruch! Brrruch!“, „Huiiii!“), er hatte seine linierten Hefte auch voll gemalt. Am besten gefiel mit ein Skelett, das auf einer Art Bombenrakete oder Raketenbombe ritt: Jünger hatte in seine Tagebücher die gleichen spirreligen Todesfiguren hineingemalt wie mein großer Bruder in seiner AC/DC- und Motörhead-Phase auf alle seine Reclamheftchen.

Das Skelett auf dem Raketendings erklärte mir nicht nur mehr über Ernst Jünger als die hundert Seiten Doktorarbeit, die ich später las. Noch als ich F.s Bücherkartons die Treppe heruntertrug, einer von ihnen aufplatzte und ein Regen von Reclamheftchen sich über die Stufen ergoss, wurde ich an Jüngers Skelett erinnert. Die gelben Büchlein (alles von „Nathan dem Weisen“ bis „Hamlet“) waren ausnahmslos mit Blumen und Ottifanten dekoriert. Auf diese Weise hatte wieder einmal irgendwie alles mit allem zu tun, und ich war mit meinem Schicksal als poststudentische unbezahlte Hilfskraft versöhnt.

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