Bei Beethoven angeklopft

Neben „Reise nach Kandahar“ ist nun ein weiterer Film Mohsen Makhmalbafs auf hiesigen Leinwänden zu sehen: Die Stille lebt von Tönen und poetischen Bildern  ■ Von Urs Richter

In der kurzen Erzählung „Pierre Menard, Autor des Quijote“ spielt Jorge Luis Borges folgende Konstellation durch: Ein symbolis-tischer Autor des 20. Jahrhunderts schreibt einen Roman, der Wort für Wort Cervantes Don Quijote gleicht. Dieser Roman – so Borges' Pointe – liefere keine schnöde Kopie des Originals, sondern erfinde es noch einmal neu und sei daher ästhetisch durchweg subtiler als die Vorlage.

Mohsen Makhmalbafs Film Die Stille kreist weniger postmodernistisch, aber ähnlich bildungsbeflissen um die gleiche Frage: jene nach dem Ursprung des Werks und dem Wert der Kunst. Der junge Tadschike Korshid arrangiert die Geräuschkulisse seiner Umwelt nach und nach zur Wiederkomposition von Beethovens 5. Symphonie. Wo der Meister gegen die fortschreitende Taubheit an komponierte, muss sich Korshid seine Welt akustisch erschließen, denn er ist blind.

In der Bestimmung alles Hörbaren hat er es allerdings zu märchenhafter Präzision gebracht. Am Summen einer Biene erlauscht er, ob sie beim Nektarsammeln Glück hatte oder nicht. Die Reife eines Granatapfels bestimmt er an dessen Klang. Ein Gedicht merkt er sich nach einmaligem Hören. „Das Auge lenkt die Aufmerksamkeit ab“, kommentiert der Film und beschenkt Sehende reichlich mit dieser Ablenkung. Makhmalbaf präsentiert Tadschikistan als dörfliche Idylle, in der schöne Mädchen in bunten Kleidern Kirschen verkaufen, Baumwollfelder wie begehbare Monet-Schinken anmuten und die Hälfte der Bevölkerung ihre Zeit mit Musizieren verbringt.

Musik ist auch Korshids Leidenschaft. Er stimmt die Saiten in der Werkstatt eines Instrumentenbauers und hätte also den idealen Job, lockten auf dem Weg zur Arbeit nicht ständig die Sirenen. Radioklänge auf dem Basar – und Kor-shid verirrt sich. Ein Lautenspieler im Bus – und er verpasst seine Haltestelle. Da nützt es auch nichts, dass ihm eine Freundin die Ohren mit Baumwollblüten verstopft: Korshid ist stets auf der Suche nach der Melodie und dem Rhythmus, die sich in seinem Kopf festgesetzt haben und auf die er nun die Welt einstimmen muss.

Das Klopfen des fordernden Vermieters an der Haustür gerät ihm zu den markanten Schlägen in Beethovens Werk, ebenso das Hämmern der Kesselflicker in ihren Arkaden oder das Probetrommeln auf den neu bespannten Tamburinen. Als Korshid schließlich auch alle Lauten auf die neue Tonart umstimmt, hat der Chef die Nase voll und schmeißt ihn raus.

Für ein Leben nach den Zwängen der Ökonomie ist der Junge allerdings nie bestimmt gewesen. Schon sein Brot kauft er nicht bei dem Mädchen mit der frischesten Ware, sondern bei dem mit der sanftesten Stimme. Und sein neuer Freund ist nicht ohne Grund ein nomadischer Musiker, der kein Geld besitzt, aber ein offenes Herz.

Makhmalbaf erzählt eine unbeschwerte Parabel über die Aufhebung des Alltäglichen in der Kunst. Über den flüchtigen Moment, der im Werk verewigt wird. Die Vision des Films ist eine Welt, in der Natur, Kultur und Arbeit nicht auseinanderfallen. Am Ende dirigiert Korshid Beethovens Symphonie inmitten eines Orchesters aus Handwerkern, von unwirklichem Licht umspült und barfuß glücklich.

Solche Ganzheitlichkeit ist mitunter erkauft durch einen Hauch Kitsch, Naivität zumindest. Dann schaukelt Korshids Mutter mitsamt spärlichem Hausrat in einer Barke über feengrüne Teiche, nachdem der musenfeindliche Vermieter sie endgültig vor die Tür gesetzt hat. Oder der schwerbewaffnete Soldat, vor dem Korshids Freundin aus Angst weite Umwege geht, sitzt balladenselig im Schatten des Olivenbaums, auch er auf der Suche nach Schönheit. In anderen Szenen aber bringt Makhmalbaf seine Poesie in schlichte und umso schlüssigere Bilder: Ein Mädchen rastet an der Wasserstelle, zupft Blütenblätter und klebt sich daraus – falsche Fingernägel.

Die Stille ist 1996 als iranisch-tadschikisch-französische Koproduktion entstanden, darf bis heute im Iran nicht gezeigt werden und hat seine deutsche Erstaufführung in anderen Städten schon lange hinter sich. Hamburg darf sich einmal mehr bei den Betreibern des 3001 bedanken, die den Film jetzt endlich auch hier vorstellen.

täglich, 20.30 Uhr, 3001