Der Moment des Abhebens

Die Ökonomie von Schuld und Unschuld: Tom Tykwer drängt es mit „Heaven“ mit aller Macht in höhere Sphären

Frank Griebe verleiht der Kamera Flügel. Von der ersten Sequenz an schickt der Kameramann seinen Apparat in die Höhe, damit er von der Welt abrückt und Gott nahe ist. Selbst in den Innenräumen drängt es ihn nach oben. Dass die Kamera dabei jemals an einer Decke anstieße, ist nicht zu beobachten.

Dieses Aufsteigen, Gleiten und Schwingen ist symptomatisch für Tom Tykwers Wettbewerbsbeitrag „Heaven“. Ähnlich wie bei Lars van Trier will hier nichts am Boden von Ratio und Diskurs bleiben: die Figuren nicht, ihre Beziehungen und ihre Motive nicht und der Plot schon gar nicht. Tom Tykwer drängt es dorthin, wo keine Frage nach dem Grund mehr laut wird, zum Märchen und zur Legende. Seine Helden heißen Philippa und Filippo, Hänsel und Gretel ginge auch, Santa Philippa und San Filippo träfe die Sache noch besser.

Es beginnt mit einer niederdrückenden Schuld: Philippa (Cate Blanchett), Englischlehrerin im norditalienischen Turin, will den Chef eines Drogenkartells töten, weil er in ihren Augen für den Tod ihres Mannes und die Sucht vieler ihrer Schüler Verantwortung trägt. Doch die Bombe zündet im falschen Augenblick, und statt des Drogenbosses sterben vier Menschen, die zufällig am falschen Ort sind – in einem gläsernen Fahrstuhl, der sich himmelwärts bewegt, an der Außenwand eines Hochhauses, das über die Dächer der Turiner Altbauten emporragt. Wie selbstverständlich nimmt „Heaven“ das Bedürfnis nach Selbstjustiz hin, das die Hauptfigur umtreibt. Dass der Dealer sterben muss, steht außer Frage wie ein Grundsatz, der sich jenseits diskursiver Anfechtbarkeit einkapselt. Für Tykwer stellt sich das Problem nicht, wenn Philippa sich zur Rächerin aufschwingt, sondern erst, wenn sie die Falschen trifft.

Allein diese Ökonomie von Schuld und Unschuld hätte, wäre sie denn so gefilmt wie in „Dancer in the Dark“, das Zeug zur Provokation, vielleicht sogar zum produktiven Ärgernis. Doch weil Tykwer auf die Dringlichkeit von Reißschwenks, Handkamera und grobkörnigen Bildern verzichtet und statt dessen so opulent wie breitwandtauglich fotografieren lässt, kommt es nie zu der Intensität, die bei Lars van Trier zum Widerspruch treibt. Tykwer will die religiöse Dimension, er will das Pathos und das Antirationale, er will Figuren, die sich selber richten, aber bitte in goutierbaren Bildern. Vor Kitsch hat er keine Angst. Wenn sich Philippa und Filippo (Giovanni Ribisi) endlich finden, geschieht dies auf einem Hügel, unter einem einsam stehenden Baum, zur Stunde des Sonnenuntergangs. Eine Fototapete mit Karibikmotiv könnte das nur schwer überbieten.

Das heißt nicht, dass Tykwer sich vollständig verrennt. Was ihm bisweilen gelingt, sind Bilder wie aus Träumen, als wachte man auf um vier Uhr nachts und erinnerte sich an die Schemen, die eben noch den Kopf bevölkerten. In der Eingangssequenz zum Beispiel dauert es lange, bis man weiß, was man sieht und wo man ist: eine virtuelle Hügellandschaft, über die ein virtueller Hubschrauber gleitet, den Filippo lenkt. „Wie hoch kann ich denn fliegen?“, fragt er seinen Ausbilder am Ende. Doch bevor wir die Antwort hören, knipst Tykwer die Sequenz aus. Später wird die Kamera frontal auf Turin schauen, von einer Distanz aus, die Details verschwinden lässt und Strukturen sichtbar macht. Die Häuserblocks reihen sich aneinander wie die Schriftzeichen einer unbekannten Sprache, wie Träger einer geheimen Botschaft.

Am Ende fokussiert die Kamera einen schwarzen Punkt, der sich in den Himmel hebt, bis er sich schließlich dem Auge entzieht. Wie ein Sog ist dieser Himmel, ein schwarzes Loch, so hellblau er auch leuchten mag. Die Kamera wiederum muss sich, sobald die Figuren zu Gott drängen, auf den Boden kauern. Hätte sich Tykwer dieser Dialektik angenommen, wer weiß, wie hoch „Heaven“ geflogen wäre.

CRISTINA NORD

„Heaven“. Regie: Tom Tykwer. Deutschland/USA 2001, 93 Min.