: Ein Maulkorb für Andersdenkende
Das türkische Parlament verabschiedet eine Neufassung der Strafgesetze im Bereich der Meinungsdelikte. Auch künftig wird eine freie Meinungsäußerung unmöglich sein. Kritiker warnen vor einem zu großen Interpretationsspielraum der Justiz
aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH
In der Türkei bleibt es gefährlich eine abweichende Meinung zu haben und diese womöglich auch noch öffentlich zu äußern. Obwohl das türkische Parlament am Mittwochnachmittag den ursprünglichen Regierungsentwurf zur Neufassung mehrerer Straftatbestände aus dem Bereich der Meinungsdelikte noch einmal veränderte, um der Kritik aus der EU und der liberalen Öffentlichkeit im Lande entgegenzutreten, ist eine freie Meinungsäußerung auch zukünftig nicht möglich.
Reformiert wurde der Strafgesetzparagraph 312 (Volksverhetzung), der Paragraph 159 (Beleidigung des Türkentums und der Staatsorgane) und die Propagandadelikte aus den Anti-Terror-Gesetzen.
Die Mehrheit des Parlaments einigte sich gegen die Stimmen der rechtsradikalen MHP darauf, dass Volksverhetzung dann vorliegt, wenn der innere Frieden gefährdet ist. Zuvor hatte es geheißen, dass bereits die „Möglichkeit den inneren Frieden zu stören“ bestraft werden kann. Nach wie vor bleibt aber der Beleidigungsparagraph 159 ein ideales Repressionsinstrument. Jede Kritik an den Sicherheitsorganen kann als Beleidigung ausgelegt werden und mit einer Haftstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden.
Besonders schwammig ist die Beleidigung des Türkentums, die jeder Staatsanwalt leicht konstruieren kann. Wird das Türkentum im Ausland von einem Türken beleidigt, beispielsweise indem er einen kritischen Artikel in einer ausländischen Zeitung schreibt, erhöht sich das Strafmaß um ein Drittel bis zur Hälfte. Bei beiden neugefassten Paragraphen bemängeln Kritiker nach wie vor, dass die Straftatbestände viel zu ungenau gefasst sind und einer breiten Interpretation durch einen konservativen Justizapparat Vorschub leistet.
Bei der Reform der „Terror-Propaganda“ hat man das bisherige Strafmaß halbiert – von maximal sechs Jahre auf maximal drei Jahre Gefängnis – dafür aber die Geldstrafen drastisch erhöht. Dahinter steckt die Absicht, missliebige Publikationen duch Geldstrafen zu ruinieren.
Wie das in der Praxis aussieht, bekommt derzeit ein kurdischer Kleinverleger zu spüren, der einen Sammelband mit Aufsätzen des bekannten amerikanischen Soziologen Noam Chomski veröffentlicht hat. In einem der Aufsätze, die sich schwerpunktmäßig mit der US-Politik nach den Terroranschlägen vom 11. September kritisch auseinandersetzen, wurde eher nebenbei auch das Vorgehen der türkischen Armee gegen die kurdische Minderheit scharf kritisiert.
Grund genug, den Verleger Fatih Taș vor Gericht zu zerren und ihn wegen Beleidigung der Streitkräfte und Volksverhetzung anzuklagen. Der Fall hat in der Türkei aber auch im Ausland für großes Aufsehen gesorgt. Noam Chomsky hat angekündigt, zu dem Prozess in der nächsten Woche in die Türkei zu kommen und sich bei der Staatsanwaltschaft selbst zu bezichtigen.
Genau solche Fälle, so die meisten Experten, wird es auch mit dem reformierten Gesetz weiter geben, weil der Gesetzgeber nach wie vor eine freie Debatte der Kurdenfrage (wegen angeblichen Seperatismus) verhindern und Äußerungen aus dem Bereich des politischen Islam unterdrücken will.
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