: Die Kratzspuren des Wirklichen
Nicolas Rey entwirft in „Les soviets plus l’électricité“ eine dokumentarische Parabel auf das Verschwinden der Sowjetunion Johannes Holzhausen zeigt in „Auf allen Meeren“, wie sich ein Sowjet-Flugzeugträger zum Amüsierschiff wandelt (Forum)
von HARALD FRICKE
Aus dem Zerfall der Sowjetunion ergibt sich für den Dokumentarfilm eine knifflige Aufgabe. Wie soll man einen Gegenstand abbilden, der nicht mehr existiert? Johannes Holzhausen spürt „Auf allen Meeren“ der Ex-UdSSR-Kriegsflotte nach, der Franzose Nicolas Rey sucht in „Les soviets plus l’électricité“ nach Opfern der sowjetischen Industrialisierung. Sein Zielort ist das sibirische Magadan, 1941 gegründet, um mit Hilfe von Gulag-Häftlingen Goldminen auszubeuten.
Doch genau diese Spur verlässt Rey schon auf der ersten seiner drei Etappen, die ihn von Paris aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Moskau und Nowosibirsk führen. Statt Beweise zu sammeln, stellt Rey das Filmemachen ins Zentrum: Wo immer Bilder und Töne montiert werden, entsteht nicht Wirklichkeit, sondern Fiktion. Deshalb hat er „Les soviets plus l’électricité“ ohne zusätzliches Editing auf sieben alten sowjetischen Super-8-Rollen gefilmt. Kein Schnitt verstellt die Realität, stets ist das Geschehen identisch mit dem, was die Kamera sah.
Das klingt nach härtestem Experimentaldogma, ein Wagnis, gerade bei drei Stunden Dauer. Für Minuten bleibt die Leinwand schwarz, weil etwas mit der Kamera nicht stimmte, dann wieder huschen bloß Flecken und Kratzer auf dem schon leicht zerfressenen Filmstreifen vorbei. Auch auf den Ton ist kein Verlass, meist sind die mit einem Diktiergerät aufgezeichneten Monologe vernuschelt. Doch interesssant ist gerade der Eigensinn der teils unterbelichteten, teils verschwommenen Bilder. Mal nimmt sich Rey viel, viel Zeit, um Arbeiter beim Bergen eines Kleintransporters zu filmen. Dann erfährt man, dass er aufgrund mangelnder Devisen keine Drehgenehmigung für Tschernobyl erhalten hat. Das Katastrophengebiet ist zur „kommerziellen Angelegenheit“ geworden, sagt er im Off. Man ist komplett Reys subjektiver Bildsprache ausgeliefert – und den Widrigkeiten des Materials. Der Filmemacher Boris Lehman hat diese Methode mit der Dichtung von Kerouac oder Ginsberg verglichen – weil sich auch Rey auf seiner Reise „außerhalb der Zeit“ befinde. Am Ende ist „Les soviets plus l’éctricité“ keine Abrechnung mit dem Sowjetsystem, sondern eine Parabel auf dessen immer weiter im Dunkel verschwindende Existenz.
Für den Österreicher Holzhausen waren die Bedingungen dagegen ideal. Zwei Jahre Vorbereitung, Interviewtermine mit Marineoffizieren, ein gut ausgerüstetes Kamerateam. Am Beispiel des 1994 eingemotteten Flugzeugträgers „Kiew“ fächert Holzhausen elegant und ohne Off-Kommentar die Geschichte eines Niedergangs auf. Der letzte Kapitän der „Kiew“ schnitzt Buddelschiffe an Bord, seine Matrosen suchen das 350 Meter lange Monstrum nach recycelbarem Material ab. Danach wird das Skelett an die Chinesen übergeben, die den Schrotthaufen durch den Atlantik schleppen. In China wird das Boot in andere Dienste genommen: als schwimmender Amüsementpark.
Das ist, für viele Exmilitärs, natürlich deprimierend. Wer früher das Kommando hatte, verdient sein Geld heute als Bademeister. Doch andere wirken ganz entspannt: Die Pflicht ist erfüllt, das Leben geht weiter. Ein Exoffizier hat sich nach dem Ende der glorreichen Sowjetmacht einer neuen Gemeinde angeschlossen: Er ist Prediger in einem Dorf, das demnächst um eine gewaltige Neubausiedlung erweitert werden soll. Auch hier regiert Gelassenheit – das eine Reich ist gegangen, schon wächst das nächste heran.
„Les soviets plus l’électricité“. Regie: Nicolas Rey. 175 Min.„Auf allen Meeren“. Regie: Johannes Holzhausen. 95 Min.
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