: Der Vulkan macht Pause
Nach dem 1:1 gegen Tabellenführer Borussia Dortmund justieren die Münchner Bayern ihre Saisonziele neu. Der Gewinn der Meisterschaft genießt dabei nicht mehr oberste Priorität
aus München THOMAS BECKER
Da brodelt nix mehr. Entspannt wie ein arbeitsloser Expander steht Oliver Kahn nach dem Spiel vor den Journalisten. „Vul-Kahn“ nennt ihn der Boulevard gerne, doch ein Ausbruch ist heute nicht zu befürchten, nicht mehr. Die Hände total relaxed in den Hosentaschen, den Pulli locker um die Hüften geschlungen, selbst das Gesicht bleibt weitgehend falten- und sorgenfrei. Am Boden zerstört wirkt dieser Mann nun wirklich nicht. Fragt ihn jemand nach der Hysterie, die nun nach dem verpatzten Auftakt zur Aufholjagd um den FC Bayern München wieder ausbrechen wird, sagte er Sätze wie: „Im Prinzip ist mir das völlig wurscht.“ Oder: „Wenn du acht Jahre hier bist, stumpfst du irgendwann ab.“ Der Vulkan macht Pause, spätestens am Samstag hat der FC Bayern die Meisterschaft abgeschrieben.
Kahn sagt das natürlich nicht so. Kahn sagt: „Die Meisterschaft ist sicherlich noch möglich, aber sehr, sehr weit weg.“ Neun Punkte weit, so weit wie schon vor dem 1:1 gegen Borussia Dortmund. Fast wären es zwölf Zähler geworden, hätte sich der Meister aller Klassen am Ende nicht doch noch zum Mitspielen aufgerafft und noch „sein Duselding gemacht“ (Fast-Bayer Sebastian Kehl). Das Totaldebakel dank Elbers Instinktkopfball von der Strafraumgrenze aus gerade noch mal verhindert, dennoch „zwei Punkte verloren“ (Elber) – der FC Bayern muss neu justieren. Hitzfeld: „Wir müssen uns jetzt auf die ersten drei Plätze konzentrieren. Wenn Dortmund nicht einbricht, wäre es unrealistisch, von der Meisterschaft zu reden.“
Doch nach Einbruch sieht es bei der Borussia derzeit nicht aus. Wie die Heimmannschaft traten die Gäste im Münchner Olympiastadion auf, hätten nach fünf Minuten 2:0 führen können, als die Bayern-Defensive locker an die letzten Katastrophenkicks anknüpfte. Robert Kovac bewies nach verlorenen Zweikämpfen Qualitäten als cooler Hinterhertraber. Sammy Kuffour rammte nach einer harmlosen Flanke mal wieder den eigenen Keeper zu Boden – ohne Not, weit und breit kein Borusse zu sehen. Hitzfeld schüttelte nur den Kopf. Tigerchen Effenberg kann den Sträflingslook aufgeben und sich wieder die Haare wachsen lassen – es hat nichts gebracht. Jancker fiel nur durch ein bescheuertes Foul auf, Jeremies erst, als er sich ebenso bescheuert mit Kehl anlegte, und Elber durch seine bemerkenswert verzitterte Großchance nach Zauberpass von Scholl. Für Dynamik sorgte lediglich Keeper Kahn: mit seinen flachen Speed-Abschlägen und zum Brüllen komischen Ausflügen à la Sepp Maier an die Seitenlinie zum intimen Vier-Augen-Gespräch mit dem Linienrichter respektive BVB-Coach Sammer. „Ist die Tabelle auch verschoben, am Ende stehen doch die Bayern oben“, hatten die Fans zuvor gedichtet – ein Pfeifen im Walde.
Und dann wurde doch noch ein Fußballspiel daraus, fast wie vor Wochenfrist, beim letzten „Endspiel“ gegen Leverkusen. Die nur 54.000 Zuschauer (Uli Hoeneß gab im „Aktuellen Sportstudio“ zu, dass die Bayern Schönwetterfans haben) erlebten in der letzten halben Stunde ein Stück von der Faszination Fußball: ein Flipperkick, bei dem das Spiel wie ein Pendel hin- und herwogte. Bei dem Kahn gegen den schnellen Ewerthon retten muss. Gegenüber Lehmann einen lauen Effenberg-Schuss durch die Finger an die Latte gleiten lässt. Der gerade eingewechselte Amoroso Oliver Kahn per Freistoß zum 1:0 in seiner Torwart-Ecke erwischt (Hitzfeld: „Unhaltbar für Olli. Der muss auch mal spekulieren, ist halt einer, der mit viel Risiko im Tor steht.“). Elber aus 16 Metern ins Tor köpft, Lehmann – ganz Unsympath – ihm den Ellbogen ins Gesicht schiebt, sich später an nichts erinnern können will und sich vom wütenden Elber einen innigen Eskimoknutsch unter die Nase reiben lassen muss. Lehmann über Elber: „Der spinnt.“ Eine halbe Stunde Fußballfieber – es war wirklich wunderbar.
Folgt: die Zeit der Analysen. „Der schwärzeste Tag in seiner Karriere“ (Rummenigge über Schiedsrichter Steinborn). „Ein guter Schiedsrichter hätte mehr aus dem Spiel gemacht“ (Hitzfeld). „Damit können wir leben“ (Sammer zur Punkteteilung). „Damit müssen wir leben“ (Hitzfeld zur Punkteteilung). Oder Bayern-Manager Hoeneß: „Ich bin kein Träumer. Ich glaube nicht, dass wir diesmal die Meisterschaft holen. Es spricht vieles für Dortmund.“ Dazu Rummenigge: „Die Pläne für die Meisterschaft müssen wir jetzt mal ein bisschen in die Schublade legen. Und ob wir die dann noch mal aufkriegen?“ Scholl: „Wir sind auch mehr gewohnt von uns. Aber wir haben momentan einfach nicht die Ausstrahlung. Wenn du ständig in die Fresse kriegst, ist es doch klar, dass du mit einem Rucksack ins Spiel gehst. Ich würde am liebsten jeden Tag spielen, damit wir wieder rauskommen aus dieser Scheiße. Mit reden kommst du da nicht raus. Jetzt heißt’s arbeiten, arbeiten, arbeiten.“ Es war wirklich Scholl, der das gesagt hat. So weit sind sie schon beim FC Bayern.
FC Bayern München: Kahn – Sagnol, Kuffour, Robert Kovac, Lizarazu – Hargreaves, Jeremies (68. Santa Cruz), Effenberg, Scholl (89. Sergio) – Elber, Jancker (75. Pizarro)Borussia Dortmund: Lehmann – Reuter, Wörns, Kohler, Dede – Kehl – Rosicky (80. Stevic), Heinrich (38. Evanilson) – Ewerthon, Koller, Ricken (65. Amoroso)Zuschauer: 54.000; Tore: 0:1 Amoroso (78.), 1:1 Elber (81.)
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