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Mythologien im Mix

Altmeister und Ethnograph Jean Rouch hat die „Nouvelle Vague“ beeinflusst und die Stammesrituale der Dogon gefilmt. Mit seinem neuen Film ist er auf dem Berlinale-Forum zu Gast. Ein Porträt

von CLAUS LÖSER

Gemeinhin wird der Name Jean Rouchs mit der Bewegung des „Cinéma Vérité“ in Verbindung gebracht – jener sich Anfang der 60er-Jahre parallel in Großbritannien, Frankreich, Kanada und in den USA formierenden Welle filmischer Innovation, die mit den hergebrachten Methoden des Kulturfilms radikal brach und die Grundlage für bis heute gültige Dokumentarfilm-Standards erst schuf.

Endlich wurde die Kamera vom Stativ befreit, wurde auf penibel vorbereitete Drehpläne verzichtet, der onkelhafte Kommentar von der Tonspur verbannt und Originaltöne verwendet. Pioniere wie Richard Leacock, D.A. Pennebaker oder Karel Reisz verstanden das Filmemachen als Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Gingen also nicht mehr von einer zu vermittelnden Erkenntnis aus, sondern stellten den fixierten Gegenstand wie sich selbst zur Disposition. Sie emanzipierten damit die Filmsprache in gleichem Maße, in dem sie die Zuschauer von Bevormundung befreiten. Jean Rouchs „Chronique d’un été“ („Chronik eines Sommers“) von 1961 gilt völlig zu Recht als einer der ganz großen Klassiker des „Cinéma Vérité“.

Tatsächlich hatte aber Rouch schon lange vor der Etablierung dieser Welle deren formale Mittel praktiziert. Der 1917 geborene, studierte Straßenbauingenieur und promovierte Ethnologe, spätere Generalsekretär des „Comité du film éthnographique“ und Präsident der „Cinémathèque française“, war im Nachkriegsjahr 1946 den Niger entlanggefahren und hatte dabei seinen ersten Film „Au pays des mages noirs“ gedreht. Aus rein pragmatischen Gründen benutzte er dafür eine handliche 16-mm-Kamera, nahm damit spontan Begegnungen, Rituale und Landschaften auf. Bis zu seiner Umarmung durch die aufbegehrenden, dokumentarisch arbeitenden Filmemacher lag bereits ein umfangreiches Oeuvre mit ethnologischen Filmen vor, die quasi unfreiwillig den Gestus der neuen Welle vorweggenommen hatten. Auch die Exponenten der „Nouvelle Vague“ um Truffaut, Rivette oder Godard erkannten in Jean Rouch einen Wegbereiter des eigenen künstlerischen Selbstverständnisses. Godards Utopie einer wie als Kugelschreiber benutzten Kamera war von Rouch längst praktiziert worden.

Afrika war und blieb die Passion Jean Rouchs. Arbeiten wie „Les maîtres fous“ (1953), über nigerianische Gastarbeiter in Accra, oder „La chasse au lion à l’arc“ (1957–1964), über eine ausgestorbene Jagdmethode, sind wertvolle Dokumente, die ihre immense Brisanz stets aus dem Spannungsfeld von Kontinuität (Traditionspflege) und Veränderung (Einbruch der Moderne) schöpfen. Vor allem seine Beschäftigung mit dem in Mali lebenden Volk der Dogon zwischen den 50er- und 80er-Jahren gilt heute als ethnologische Grundlagenarbeit, zu deren Einfluss auf die eigene Arbeit sich auch Claude Levi-Strauss („Traurige Tropen“) ausdrücklich bekannte. Durch seine langjährige, sensible Beschäftigung mit dem Alltag der Dogon gelang Rouch die Dokumentation von Zeremonien und Ritualen, die vorher niemals von Stammesfremden beobachtet, geschweige denn gefilmt werden durften. An einer musealen Archivierung ist der Filmemacher dabei ebenso wenig interessiert wie an Rousseau’scher Idealisierung des „schönen Wilden“. Und noch viel weniger an einer esoterisch gefärbten Erlösungsduselei.

Seine Filme stellen unsentimentale Protokolle von Veränderungen dar, die sich sonst der öffentlichen Wahrnehmung entziehen würden. Rouch zog sich nie auf einen hermetischen Expertenstandpunkt zurück, zeigte sich vielmehr daran interessiert, inwieweit die in Afrika vorgefundene Magie universellen menschlichen Überlebensstrategien entspricht. Wie Peter Brook vermischt er deshalb immer wieder die Mythologien verschiedener Kulturkreise. Und verwischt die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm. So inszeniert er in „Fraternité: cantate pour deux généraux“ (1990) die Rehabilitierung des schwarzen Revolutionsgenerals Toussaint-Louverture als Voodoo-Ritual. Oder baut in seiner jüngsten, auf der Berlinale vorgestellten Produktion „Le rêve plus fort que la mort“ („Der Traum ist stärker als der Tod“) ein Stück von Aischylos in den Alltag eines ghanaischen Dorfes ein. Jean Rouch hat in der Vergangenheit auch Dokumentationen über Kollegen wie Henri Langlois oder Raymond Depardon gedreht oder einen surrealen, um die Turin-Reisenden de Chirico und Nietzsche kreisenden Spielfilm wie „Enigma“.

Jean Rouchs Werkbiografie umfasst mehr als 150 Filme. Die Vitalität des äußerlich inzwischen fragil wirkenden Mannes ist ungebrochen: Er kuratiert Programme für Festivals, arbeitet unentwegt an neuen Projekten und nimmt auch eine Reise zur Berlinale auf sich, um seinen neuen Film persönlich im Forum zu präsentieren. Sein halsbrecherischer Fahrstil, mit der er seine „Ente“ durch Paris lenkt, ist legendär. Gleichnis für eine vom Alter anscheinend unbeeindruckte Ungeduld, die sich schon in einem 1987 geführten Interview formulierte: „Man muss beunruhigende Dinge unter die Leute bringen, wenn man den Anspruch hat, Kino zu machen.“

„Le rêve plus fort que la mort“. Regie. Jean Rouch. Frankreich 2002, 77 Min.

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