ein bad im meer
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von RALF SOTSCHECK

Tim the Thatcher ist genial. Er deckt Dächer und trägt dabei stets einen schwarzen Anzug und ein blütenweißes Hemd mit Krawatte. Er sei der beste Handwerker Irlands, behaupten Kunden, die er beglückt hat. Das sind aber nicht viele, denn Tim ist faul, außer die Kundschaft ist weiblich. Mit seinen 60 Jahren ist er ein berüchtigter Womanizer.

Wenn eine Frau, ob allein stehend oder verheiratet, ihr Dach gedeckt haben möchte, bietet Tim sich an, es kostenlos zu tun. Er verlangt lediglich Kost und Logis. Weil ihm das so gut gefällt, kann es Monate dauern, bis er mit der Arbeit fertig ist. Das hat sich natürlich herumgesprochen, und so bekommt er nur noch Aufträge von allein stehenden Herren. Das macht ihm nichts aus, denn er verbringt seine Tage ohnehin lieber in seiner Stammkneipe an der Westküste. Da er ein vorsichtiger und vorausschauender Mensch ist, parkt er sein Auto stets in Fahrtrichtung, wenn er am Pub ankommt. Nach einem durchzechten Abend muss er dann nur noch den Schlüssel finden, einsteigen und geradeaus fahren. Nach einer halben Meile biegt er links ab, dann ist er zu Hause. Das hat er sich eingebläut, und daran erinnert er sich auch noch nach zwölf Pints, dem Maß aller Dinge in irischen Pubs – rund 0,66 Litern.

Neulich ging er auf eine Beerdigung; eine alte Nachbarin war gestorben. Da zwei ihrer Brüder Pfarrer sind, wurde es ein zünftiges Begräbnis mit reichlichem Essen und noch mehr Getränken. Danach war Tim verschollen. Erst am nächsten Vormittag tauchte er wieder in seiner Stammkneipe auf. Er war vollkommen durchnässt und hatte eine schwere Erkältung. Dem Wirt erzählte er, dass er etwas verloren habe. Aha, dachte der, die Autoschlüssel sind mal wieder weg. Aber nein: Diesmal war es das ganze Auto.

Es blieb zwei Tage lang verschwunden, dann fand man es – im Meer, eine halbe Meile vom Wirtshaus entfernt. Gemeinsam mit den Stammgästen gelang es dem Wirt zu rekonstruieren, was geschehen war. Tim hatte den Wagen vor der Beerdigung an der Kneipe geparkt, weil der Friedhof nicht weit war und er danach ohnehin noch in den Pub wollte. Da er aber beim Begräbnis schon gut abgefüllt worden war, beschloss er, gleich nach Hause zu fahren. Entgegen seinen Gepflogenheiten hatte er das Auto jedoch nicht in Richtung Heimat abgestellt. So fuhr er los und bog, wie er es gewohnt war, nach genau einer halben Meile links ab. Dort liegt das Meer, wie Tim zu seiner Überraschung feststellte. Er konnte sich mit Müh und Not aus dem Wagen befreien, kletterte die Böschung hoch und ging die Straße links hinunter, weil auf seinem Nachhauseweg das Wort „rechts“ nun mal nicht vorkam.

Nach fünf Kilometern landete er in Kinvarra, der nächsten größeren Ortschaft, und wunderte sich. War sein Heimatdorf etwa umgezogen? Er legte sich verwirrt in den Straßengraben und schlief ein. Am nächsten Morgen fand ihn jemand, fast zu Eis erstarrt, und brachte ihn im Auto zurück zum wichtigsten Ort, von dem Tim hoffte, dass er noch am angestammten Platz stehen würde: seiner Stammkneipe.