: Genua, Bin Laden, eine Front
Der italienische Innenminister Claudio Scajola will während des G-8-Gipfels in Genua Schießbefehl erteilt haben – im Rahmen des Kampfes gegen den islamistischen Terror. Die Polizeispitze bestreitet jedoch, eine solche Order erhalten zu haben
aus Rom MICHAEL BRAUN
„Während des G-8-Gipfels, in jener Nacht, nachdem es den Toten gegeben hatte, sah ich mich gezwungen, den Schießbefehl zu erteilen, wenn sie in die Rote Zone eingedrungen wären. In Genua stand damals sehr viel auf dem Spiel; das haben alle nach dem 11. September verstanden.“
Italiens Innenminister Claudio Scajola überraschte die Journalisten am Freitagabend auf dem Rückflug vom EU-Gipfel der Innen- und Justizminister im spanischen Santiago de Compostela mit ebenso wolkigen und widersprüchlichen wie schockierenden Auskünften. Danach hatten die Einsatzkräfte spätestens vom Abend des 20. Juli an den expliziten Befehl ihres obersten Dienstherrn, das Feuer auf Demonstranten zu eröffnen, die die Absperrungen rund um das Zentrum von Genua überwanden.
Ein Befehl, der sich aus der Summe zweier scheinbar in keinerlei Zusammenhang stehender Ereignisse ergab: Das eine – die Erschießung Carlo Giulianis (die weit von der Roten Zone entfernt erfolgte) – war soeben eingetreten, offenbar im Vorgriff auf Scajolas Einsatz-Marschroute, während das andere – der al-Qaida-Anschlag auf die Twin Towers – erst knapp zwei Monate später eintreten sollte und dennoch heute tauglich ist, auch härteste Repression schon im Juli zu legitimieren.
Natürlich sei es ihm mit dem Schießbefehl nur um Terrorabwehr gegangen, beeilte sich Scajola in Kommentierung seiner eigenen Worte tags darauf zu ergänzen. Was aber der Tod Giulianis, was die Überwindung der Absperrungen rund um die Rote Zone (die von breiten Teilen der G-8-Gegner, nach bisherigem Erkenntnisstand aber nicht von Bin Laden geplant war) mit der Bekämpfung des islamistischen Terrors zu tun hat, behält der Minister für sich. Stattdessen brüstet er sich mit der Erteilung eines Schießbefehls als Reaktion auf einen Tag heftigster, in vielen Fällen von Polizei und Carabinieri angezettelter Straßenkämpfe.
Vorderhand ist Scajolas Äußerung mysteriös: Die Polizeispitze bestritt, jene Direktive je erhalten zu haben. Zudem wäre ein genereller Schießbefehl rundum rechtswidrig. Deshalb ist in Kreisen des Innenministeriums jetzt nur noch von einer allgemein gehaltenen mündlichen Weisung die Rede.
Das macht die Sache nicht besser. Denn wenn Scajola sich nicht im Datum für die dann wohl geheim erfolgte Order vertan hat – dafür spricht der großzügige Schusswaffengebrauch schon an jenem tragischen Freitag –, so hat er es spätestens nach Giulianis Tod offenbar für nötig befunden, die brutale Linie der Polizei und Carabinieri ausdrücklich zu bestärken.
Provozierend ist auch der Zeitpunkt der jetzigen Enthüllung: Gerade erst hat die Regierungsmehrheit im Parlament die Einsetzung eines G-8-Untersuchungsausschusses blockiert, weil ja alles klar sei. Klar ist für Gavino Angius, den Fraktionsvorsitzenden der oppositionellen Linksdemokraten, zumindest das von Scajola gegebene Signal: Diese Regierung sei „bereit zu schießen, und auf der Straße hat Ruhe zu herrschen“.
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