: Jetzt kommen die Ostler dran
Der spektakuläre Sturz Eberhard Diepgens illustriert ein Berliner Phänomen: Zwölf Jahre nach der Einheit drängen Politiker aus dem Osten an die Macht
aus Berlin STEFAN ALBERTIund ROBIN ALEXANDER
Als die Delegierten sich zum Applaus erheben, wird es einsam um Eberhard Diepgen. Die Partei steht, und er, der gerade zurückgetretene CDU-Landesvorsitzende, der Möchtegern-Spitzenkandidat für den Bundestag, sitzt wie in einem Wall aus dunklem Zwirn. Neben ihm, in der zweiten Reihe der Kongresshalle im Ostberliner Stadtbezirk Hohenschönhausen, bleibt nur einer auf Augenhöhe sitzen: Peter Kittelmann hat über Jahrzehnte die Strippen in der Berliner CDU gezogen – der West-Berliner CDU. Ein Mann mit dunklem Gesicht, der ein bisschen aussieht wie der Schauspieler Horst Frank in seinen besten Jahren. An diesem Samstag gibt er den treuen, aber fatalen Berater. Er hatte am meisten für Diepgen getrommelt. So laut, dass Diepgen andere Stimmen nicht mehr hörte – oder hören mochte.
Als Nr. 1 der CDU-Landesliste wollte Diepgen in den Bundestag, seine Politkarriere als abgewählter Regierender Bürgermeister abrunden. Im Landesvorstand hatte er sich fünf Tage zuvor knapp durchsetzen können, die Delegiertenkonferenz sollte das Votum bestätigen. Doch die mochte nicht: Diepgen fiel ohne Gegenkandidaten durch, von den Delegierten stimmten 123 für, aber 161 gegen ihn. Für Diepgen Anlass, schon jetzt und nicht wie geplant erst im Mai vom Landesvorsitz zurückzutreten. „Man muss Konsequenzen ziehen“, sagt er.
Ein nützlicher Bürgerrechtler
Unter den Parteifreunden, die ihm nach seinem Rückzug applaudieren, steht, sechs, sieben Plätze entfernt, ein Mann Mitte 40, der mit Vollbart, Holzfällerfigur und schiefem Krawattenknoten nicht wie der Vize-Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aussieht. Günter Nooke wird eine Viertelstunde später neuer Spitzenkandidat sein. Diepgens Blut klebt nicht an seinen Händen. Den Königsmörder im CDU-Drama mimen andere, angefangen haben Parteifreunde aus dem Ost-Stadtteil Lichtenberg, die einen Gegenkandidaten vorschicken. Nicht etwa Nooke, den Ex-DDR-Bürgerrechtler, sondern einen unbekannten Wessi. Er ist der Wegbereiter, der kurz darauf wieder zurückzieht. Es folgt ein renommierter Bezirkspolitiker, der dazu aufruft, weder Diepgen noch seinen Gegenkandidaten zu wählen. Die Stimmung ist reif, dass Parteiobere Diepgen zum Rückzug vom Spitzenplatz auffordern können.
Diepgens spektakuläres Karriereende überdeckt eine bemerkenswerte Tatsache: Die notorisch westdeutsche, erneuerungsunfähige Berliner CDU, die sich in diesen Tagen angesichts eines rot-roten Senates in antikommunistischen Exzessen im Stile der Fünfzigerjahre ergeht, diese Frontstadt-Truppe soll jetzt ein Mann in den Bundestag führen, dem man sein Ostlertum vom Gesicht ablesen kann. Sicher, schon vor Jahren hat Günter Nooke seinen Bürgerrechtler-Vollbart gestutzt. Für einen wie ihn – Mitbegründer vom „Demokratischen Aufbruch“ und ehemals Bündnis-90-Politiker – haben sie in der CDU Verwendung: Ein nützlicher Zeuge, den man ab und an hervorholt, um Anwürfen gegen die SED-Nachfolgepartei PDS Legitimität zu verleihen. An echte Pfründen kommt so einer wie Nooke nicht. Dass er jetzt Nr. 1 auf der CDU-Liste ist, hat weniger mit seinen Qualitäten als mit Diepgens Machthunger zu tun. Denn Diepgen wollte nicht nur die Spitzenkandidatur, sondern auch den prestigeträchtigen Wahlkreis Berlin-Mitte – Nookes Wahlkreis. Diepgen setzte sich zwar durch, vergrätzte mit Nookes Vertreibung aber viele Unionsmitglieder.
Fast zeitgleich, als Nooke tief im Berliner Osten seinen unerwarteten Sieg beim CDU-Parteitag einfährt, überrascht in einer Halle im Westen der Stadt bei der Konkurrenz nur die Höhe eines Wahlerfolges. 98 Prozent für Wolfgang Thierse – „ein echtes Ostergebnis“, witzeln die Delegierten. Auch die Berliner SPD stellt an diesem Wochenende einen ehemaligen Bürgerrechtler auf den aussichtsreichsten Listenplatz.
Die Nr. 1 ist aus dem Osten
Der Bundestagspräsident, dessen Bart immerhin bis 1998 struppig blieb, ist natürlich ein anderes Kaliber als Nooke. Aber seltsam ist es schon: Erst vor knapp einem Monat teilen die Weststrippenziehen fünf Senatorenposten unter sich auf und überlassen die Repräsentation der östlichen Hälfte ihrer Stadt der PDS. Und jetzt bejubeln die Genossen den Ossi-Bären, der Berlin nicht zwischen Paris und London, sondern als „sechstes neues Bundesland“ zwischen Schwerin und Magdeburg verortet. Der zweite Platz geht ebenfalls in den Osten: an Christine Bergmann, Bundesfamilienministerin.
Die Nr. 1 kommt aus dem Osten: Thierse für die SPD, Nooke für die CDU. Und vor vier Wochen gelangte überraschend Werner Schulz auf den grünen Listenplatz 2. Thierse, Nooke, Schulz – drei Köpfe aus der Bürgerbewegung von 1989 sollen im Bundestag drei Parteien repräsentieren, die auch zwölf Jahre nach der Einheit in Berlin beinahe rein westdeutsche Vereine geblieben sind.
Bürgerbewegte nach vorn zu stellen, ergibt Sinn: Wer könnte besser die in Berlin regierenden PDS-Senatoren, die alle aus kommunistischen Funktionseliten stammen, stellen als Ostler, die sich in der DDR nicht korrumpieren ließen? Der eigentlich Grund für ihren Erfolg ist aber profaner: Den wenigen Köpfen der Bürgerbewegung, die bereit waren, in bundesrepublikanischen Parteien mitzuarbeiten, war die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheiten und das Einbringen ihrer Erfahrungen im Obrigkeitsstaat wichtiger als die Leitung von Wohnungsbaugenossenschaften und Bankgesellschaften. Diese Schaltstellen besetzten weiter Westpolitiker – und ruinierten das Gemeinwesen Berlin. Der erste Westberliner auf der SPD-Liste, Ditmar Staffelt, muss sich sogar von den eigenen Genossen als „Konstrukteur der Bankgesellschaft“ beschimpfen lassen. Und dem Ober-Pleitevogel Diepgen noch eine Karriereverlängerung gestatten? Dann besser einen Ossi.
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