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Denken macht weltläufig

Es gibt Fragen, die stellt man sich nur an besonderen Tagen: Wissen Städte wie Nagasaki, Neheim-Hüsten und Nashville, dass ihre Namen auf einem Schild am Rathaus Neukölln stehen und sie als Partnerstädte ausweisen? Ein Neuköllner Gedenkblatt

von ULI HANNEMANN

Schon beim Zähneputzen wusste ich, dass heute ein ganz besonderer Tag sein würde: mein Tag. Ich zog mich rasch an und duschte. Dann stand ich auf. Auf dem obersten Kalenderblatt in der Küche stand „Ulis Tag“: Es war in der Tat mein Tag und es war immer schon mein Tag gewesen, denn der Kalender hatte überhaupt nur dieses einzige Blatt.

Dafür konnte man auch gut und gerne von einem Schnäppchen sprechen. Das tat ich jetzt auch: „Schnäppchen, Schnäppchen, Schnäppchen“, sprach ich halblaut vor mich hin. Niemand antwortete – ich war allein! An meinem ganz besonderen Tag wollte ich natürlich nicht alleine bleiben und so verließ ich das Haus und ging auf die Straße.

Es blies ein unangenehm kalter Wind. Ich fröstelte: In den nassen Klamotten würde ich mir irgendwann noch mal den Tod holen! Tief in meinem Innersten spürte ich, dass diese „Revisionistenkacke“, wie ich sie nannte, nämlich die Angewohnheit, zuerst zu duschen und sich danach anzuziehen, auch gesundheitliche Vorteile bot. Ich nieste. Es war nicht alles schlecht gewesen, früher. Es war auch nicht alles schlecht gewesen, später. Dazwischen auch nicht.

Auf den Blickwinkel kam es an: Ich öffnete die Augen und sah, dass mich meine Füße ganz automatisch an meinen Lieblingsplatz getragen hatten. Mein Lieblingsplatz – ich kam oft zum Denken hierher – war der Platz vor dem Rathaus Neukölln mit dem Schild für die Namen der Neuköllner Partnerstädte: Nagasaki, Neheim-Hüsten und Nashville/Tennessee.

Ob diese Orte wohl wussten, dass sie auf dem Schild standen, und wenn ja, warum? Konnte man sich Partnerstädte auch kaufen? Oder existierten tatsächlich irgendwelche Verbindungen nach Neukölln? Die Partnerschaft zu Nagasaki war wahrscheinlich kurz nach dem Krieg entstanden, als sich dort keiner dagegen wehren konnte. Dazu die Ähnlichkeiten im Stadtbild: Hier Nagasaki – vor, während und nach der Bombe. Dort die Wandlung des Rollbergviertels. Leiden vereint.

„Nash…ville!“: Ich nieste heftig. „Gesundheit“, rief der Bürgermeister aus dem Fenster. Ich bedankte mich und fuhr fort, nachzudenken. Denken machte mir nicht nur nichts aus, es machte mir sogar Spaß: Ich war ein exzellenter Denker – ich dachte schnell und leicht. „Nashville“, dachte ich leichthin, „wieso … warum … wohl das ist von Neukölln die … Patenstadt?“

Vermutlich, dachte ich schlau weiter, wegen der vielen Eckkneipen im Country-Western-Style, in denen Leute sitzen, die obenrum Cowboyhut und Fransenweste tragen und an den Füßen Badelatschen. Aber welcher Grund sprach umgekehrt – in Nashville/Tennessee – für die Wahl eines solchen Städtepartners? „What the fuck, where the fuck is that: ‚Yukon‘ – Canada?“, fragte man sich dort gewiss, und genauso steht es auf dem Schild vor dem schmucken kleinen Rathaus in Nashville. Das nahm viel Platz weg auf dem Schild – da war dann leider kein Raum mehr für andere Namen und so ist „what the fuck, where the fuck is that: ‚Yukon‘? – Canada?“ bis heute Nashvilles einzige Partnerstadt geblieben. Und Neheim-Hüsten? Ich hüstelte verlegen: Selbst ein starker Denker wie ich hatte keine Ahnung, wo das sein mochte. Sollten es die Neuköllner Stadtväter gar erfunden haben, um die Liste ihrer Partnerstädte beliebig verlängern zu können und dadurch eine Beliebtheit und Weltläufigkeit zu simulieren, die diesem Bezirk in etwa so stand wie einem Sushi-Ringer ein Paillettenkleid? Geheimnisse über Geheimnisse. Warum hatte man den Ort nicht „Geheim-Hüsten“ genannt? Und hieß es nicht eigentlich „Sumo-Ringer“? Fragen über Fragen. Der Fragen und Geheimnisse waren so viele wie Gummibärchen in einer großen Tüte, wie Fröschchen in einem tiefen tiefen Teich, wie Leichen in einem geräumigen Massengrab. Ob die Neheim-Hüstener ahnten, wie ich mir ihretwegen das Hirn zermarterte? Oder sagte man Neheimer-Hüsten? Oder Neheimer-Hüstener? Ich wurde von einem gemeinen Husten geschüttelt und der Bürgermeister schloss geräuschvoll das Fenster. Es war ohnehin schon sehr spät. Ein ganz besonderer Tag neigte sich langsam seinem Ende zu: Erstmals hatte ich drei Lungenentzündungen in einer Woche geschafft. Zufrieden bellend und schniefend machte ich mich auf den Heimweg – in der wunderbaren Gewissheit, dass, wie jeden Tag, auch morgen wieder mein Tag sein würde.

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