: Die Lust an der Anstrengung
Statt Wissensvermittlung bietet man hier Fragen, statt Richtig-falsch-Alternativen Ungewissheiten, statt Pumuckl Fassbinder und Kafka: In der Münchner Schauburg wird die Jugend gezielt überschätzt. Jetzt feiert das Jugendtheater 25. Geburtstag
von SABINE LEUCHT
Manche werden es wieder arrogant finden. Wie man hier Kafka auf die Bühne holt und dann keinen Leitfaden dazu inszeniert. Volle Pulle Literatur, Mehrdeutigkeit vom Feinsten – und niemand da, der mal ordentlich Tacheles redet: Was ist er denn nun geworden über Nacht, der Gregor Samsa? Ein echter Käfer? Ein Immer-weiter-Träumer? Oder hat sich bloß die Arbeitsscheu als Panzer an ihn geschmiegt?
In der Münchner Schauburg wird Jugendtheater gegeben und mit Erklärungen gegeizt. „Wir wollen keine Vereinfachung der großen Stoffe. Wir setzen auf die Lust an der Anstrengung.“ Dies sagt die Dramaturgin Dagmar Schmidt, die mit ihrem Mann und Intendanten George Podt vor elf Jahren die Münchner Institution aus einer Kurzzeitkrise holte. Seither leiten sie das Haus, das in diesen Tagen sein 25-jähriges Bestehen feierte: 1977 ging im frisch renovierten vormaligen Uraufführungskino am Schwabinger Elisabethplatz zum ersten Mal der Vorhang hoch. Dass dies gefeiert wurde, lag auch an der Münchner SPD, die vor den Kommunalwahlen gerne an ihr kulturelles Engagement erinnerte: Weiland hat sie verhindert, dass das Haus zum Supermarkt wurde. Es ist aber vor allem ein Bekenntnis zu der differenzierten Ästhetik der „Schauburg“ – wie sich die Bühne seit 1995 offiziell nennt – gegen die plakativ-politische Vergangenheit des ehemaligen „Theaters der Jugend“, dessen Wurzeln bis in die Fünfzigerjahre zurückreichen.
1969, als Volker Ludwig in Berlin das Grips-Theater gründete, wurde die Münchner Bühne zum ersten deutschen Kinder- und Jugendtheater in städtischer Hand – und als Anti-Grips fast ebenso bekannt wie das Moabiter Mutmach-Kabarett. „Wir betonen die Gegensätze gar nicht so“, meint Podt. Doch in den Achtzigern unter Jürgen Flügge wurde die Opposition fast zum Krieg hochgeputscht, erinnert sich Schmidt: „Damals galt in Deutschland nur eine Auffassung von Theater: die Ludwigs.“ Flügges poetisches Theater aber wollte keine „abgezirkelte Unterrichtseinheit“ sein, an deren Ende eine abfragbare Erkenntnis steht: Ausländer sind nett! Oder: Rettet unseren Wald! Als ob der Zeigefinger an der antiautoritären Hand weniger nervte.
Außerhalb Deutschlands war die Welt des Kinder- und Jugendtheaters auch damals schon „kraus und bunt“. In Schweden gab es die Kampagne „Kinder brauchen Kunst“. „Die besten Schauspieler sah man in Astrid-Lindgren-Verfilmungen“, wogegen das Spielen für Kinder hierzulande noch immer als rufschädigend gilt. „Kinder sind bäh“, sagt Schmidt. Wer wundert sich da über Pisa?
Gegen die Bildungsmisere haben die Münchner ihr eigenes Programm: kein schulbegleitendes, auch wenn sie Lehrer bei der Vorbereitung von Theaterbesuchen unterstützen. Statt Wissensvermittlung bieten sie Fragen, statt Richtig-falsch-Alternativen Ungewissheiten – so kreiert die Schauburg ihre Parallele zum heutigen Leben, dessen Rätsel unterm Strich ja auch immer weniger aufgehen.
Klar, dass da der Vorwurf laut wird, man wolle eigentlich Ewachsenentheater machen. Den hübschesten Kommentar dazu liefert eine Szene aus einer der jüngsten Produktionen: In einem lustvollen Pas de deux der Mordfantasien von Edgar Allen Poe und Daniil Charms schaut Thorsten Krohn fragend auf einen klitzekleinen Stuhl, auf den er sich setzten soll: „Kinder- und Jugendtheater“, sagt Peter Ender da mit einem Schulterzucken, und ein breites Grinsen teilt seine Lippen wie nach einem köstlichen Streich.
Das Kleinmachen, sich jovial hinunterbeugen, niedlich sein – das gibt es in der Schauburg ebenso wenig wie ein belehrendes Von-oben-herab. Sonst aber gibt es alles und – ja, tatsächlich – für alle Generationen. In der Schauburg werden Erwachsene nicht unter Niveau unterhalten – und oft mit mehr Mühe verzaubert als in den Tempeln des vermeintlich „richtigen“ Theaters. Mit Politischem wie „Che Guevara“, Problemgeladenem wie „Iphigenie Königskind“ (Scheidung), Fassbinders „Katzelmacher“ (Ausgrenzung) und Suzanne von Lohuizens „Dossier Ronald Akkermann“ (Aids).
Immer aber geht es vor allem um Theater als „magisch-illusionären Raum“ (Podt). Den zu bevölkern helfen den Schauspielern die hauseigenen Puppenspieler, Gäste aus dem fantasiebegabten Italien, der Schweiz und der holländischen Heimat des Hausherrn und immer mehr auch die dritte Sparte Tanz – mittlerweile leider ohne die zu teuer gewordene Sasha Waltz. Aufführungsfotos der Schauburg wirken oft wie Gemälde, aufs Wesentliche heruntergefahrene Gesamtkunstwerke.
Hausregisseur Peer Boysen kommt vom Bühnen- und Kostümbild und hat erst über Podt zur Regie gefunden. Heute inszeniert der Sohn des Schauspielers Rolf Boysen auch viel beachtet im „richtigen“ Theater. Ebenso der Schweizer Beat Fäh, der unlängst gestand: „Ganz nah heranrücken an die Jugendkultur könnte ich nie.“ Damals inszenierte er mit Jeremias Gotthelfs „Die Schwarze Spinne“ einen Mittelalterkrimi für die Schauburg, bei dem der Prosatext unangetastet blieb und die eigentümliche Bildsprache sich immer wieder dem Fluss der Erzählung entwandt.
Das narrative Theater, die Erprobung unterschiedlicher Erzählweisen, wird die Schauburg in Zukunft noch stärker beschäftigen. Denn sie will auf literarischem Gebiet „eine Schule der Qualität“ (Podt) sein. Nach München, geben Podt und seine Frau zu, passt ein solches Theater sicher besser als nach Berlin. Hier kann man recht privilegiert (noch [!!] lässt sich die Stadt jeden Kinderhintern 128 Mark kosten) darauf warten, „dass Bilder in die Seele fallen“ (Schmidt).
Alle paar Jahre ist der Aufprall der Bilder bis ins Feuilleton zu hören. So 1994, als Peter von Becker Peer Boysens Inszenierung von Tankred Dorsts „Grindkopf“ ins Best-of-Blatt Theater heute hievte.
Kein Wunder also, dass die Schauburg in der Kindertheatergemeinde eine Ausnahmestellung genießt. Ihre Kollegen in anderen Städten sehen die Münchner ganz eng zusammenrücken „wie die Vögel im Schneesturm“ (Schmidt). „Da wird die Welt so klein“, die das Theater doch so groß wie möglich machen soll. Noch ein Grund, die Münchner arrogant zu finden.
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