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Mein Diskurs ist besser als deiner

Denn sie wissen, dass sie DAS nicht leben wollen: Repräsentationskritik regiert auf dem Theater des René Pollesch. In seinen Stücken schaut sich immer wieder eine Bande von minoritären Peers gegenseitig beim begrifflichen Sichdurchschlagen zu

Pollesch erntet seine Vorlagen in ihrer ganzen prallen rhetorischen Dichte Heute fängt man wieder – wie vor 1968 – beim Ich an, das Nein sagt

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Was sich in diesen Tagen dem Ende zuneigt, war die totale und theaterflächendeckende Pollesch-Saison: ein Dreiteiler („Die Stadt als Beute“, „Insourcing des Zuhause – Menschen in Scheiß-Hotels“ und „Sex“) im Prater der Berliner Volksbühne; dazu alle möglichen Rahmenprogramme: „Die falsches Leben Show“, ebenfalls ein mehrteiliges Diskussionstheaterprogramm (allerdings ohne Polleschs direkte Beteiligung), ein dreiteiliges Gesellschaftsspiel („Sex and the City I–III“) und andere verwandte Produktionen und Wiederholungen (so genannte Raubkopien) früherer oder anderswo gelaufener Pollesch-Stücke. In der vorangegangenen Saison wurde die „Heidi Hoh“-Trilogie noch einmal in Berlin rumgereicht. In Hamburg waren die „World Wide Web-Slums“ aufgeführt worden und in Stuttgart „Smarthouse“ – „Smarthouse 2“, um genau zu sein. Denn Pollesch-Stücke treten nun mal gerne in Serien und Rudeln auf, und nicht immer muss man Teil eins kennen, um sich über Teil zwei diskutierend amüsieren zu können.

Einmaligkeit gilt nicht viel bei René Pollesch. Themen, Textzeilen, Slogans wiederholen sich, Inhalte überlappen einander, Prinzipien werden penetrant beibehalten, bis sie brechen. Serien und Soaps sind ihm Modell in mancher Hinsicht. Theoreme und Probleme spielen die Hauptrollen und hangeln sich von Episode zu Episode. Irgendwann sind sie erledigt und werden ausgemustert. Oder die offiziellen Diskussionen haben sie ins Hauptprogramm der Feuilletons und Theatersäle befördert – auch dann steigen sie schon mal aus, genau wie die „Marienhof“-Fernsehserien-Sklaven, die es zu Sängern gebracht haben. Pollesch-Stücke müssen durch so viel Kontinuität miteinander verbunden sein, weil sie sonst mit so vielen Gewohnheiten brechen, die einem Publikum helfen, bei der Stange zu bleiben. Und daran, dass es das tut, hat Pollesch trotz oder wegen der vermeintlich unverständlichen Theoriekost, die er aufführt, erkennbar ein Interesse. Darum, aber nicht nur darum, sondern auch weil Pollesch nur zu gern auf das Mechanische, Industrielle, Produzentenhafte, durchaus Massenproduzentenhafte, ja Sklavenhafte, entschieden Bürger-Subjektivität-Ferne seiner Autorschaft wie seines Regisseurtums verweist, auch darum gibt es Regeln. Die Regeln sind bei ihm primär, das jeweilige Script ist sekundär. Halten die Schauspieler die Regeln ein, können sie gerne mit dem Script brechen.

Erste Regel ist, stets in der Schwebe zu halten, ob die Schauspieler etwaigen Personen eines Dramas entsprechen. Weder dementieren noch bestätigen! Die drei oder vier Personen, die die Texte sprechen, repräsentieren zeitweise tatsächlich vier Personen, dann wieder nur eine oder zwei. Sie sind, unabhängig vom Geschlecht der Darsteller, mal Männer oder Frauen, wechseln das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, den Namen, die Funktion, den Beruf. Dann wieder bleibt aber die Verbindung eines Namens mit einem bestimmten Job konstant und man ahnt, dass es doch Dramatis Personae gibt. Zumindest auf dem Papier. Repräsentationskritik rules.

Die Texte werden zuweilen einfach von einer Sprecherin an den nächsten weitergereicht. Entweder so, dass der Aufgreifende mit einem „Ja, genau“ zu seiner weiterführenden Rede anhebt. Also noch im Dialog und so, als wären es doch zwei, die hier Kulturtheorie verzapfen. Dann wieder so, als wäre es alles ein Oberstübchen, in das die Regie geschaltet hat und aus dem sie Sätze überträgt, die lediglich aus Gründen physischer Grenzen von verschiedenen Darstellern gesprochen werden. Dann sind da echte Dialoge, zärtlicher Umgang, Nachfrage, Verständnisfrage, Beziehungsgespräche – manchmal solche, in denen einer vom anderen ökonomisch abhängig, gemietet, angestellt, bezahlt wird. Vorherrschend ist dennoch der vom Text nicht immer gedeckte Eindruck von einer Bande, einer Gruppe von Peers, weiblichen oder minoritären Peers, zumindest nicht weiß-männlich-heterosexuellen Normalitätsvertretern, die sich gegenseitig beim Sichdurchschlagen zuschauen.

Sichdurchschlagen ist aber – so die wichtigste Regel – immerzu Begriffsarbeit. Darsteller verhaken sich bei Pollesch in den Klettverschlüssen elaborierter kulturdiagnostischer und -kritischer Texte, die sie aber aus der dritten in die erste Person transponieren. Das Material stammt in der Regel aus am Rande des akademischen Mainstreams in Kunst- und Gegenkulturverlagen publizierten Quellen. Oft werden nur deren Headlines und prägnanteste Neologismen abgezapft und in neue transparente Sinnfolder gesteckt. Dann wieder gibt es eine sehr ernsthafte, jeden Scherz überlebende feministische und gendertheoretische Fragestellung und Forschung, die sich von keiner komischen Exkursion unterkriegen lässt, sich sogar durch die Stücke hindurch weiterentwickelt und auf das Neueste, „Sex“, hin zuspitzt.

Die Rezeption kritischen Urbanismus der Mike-Davis-Richtung, gendertheoretischen Feminismus der Butler-Schule und schließlich Theorien zur Ökonomie der Erlebnis- und Dienstleistungsgesellschaft, insbesondere französischer und italienischer Provenienz, haben in Deutschland während der 90er eine ziemlich dichte und vom Feuilleton wenig beachtete (Underground-)Theoriekultur hervorgebracht, die diese Ansätze vor allem auch aktivistisch denken will und an ein eigenes politisches Handeln anschließen.

Gleichzeitig war es dieser Rezeption auch um Antworten auf eigene Fragen gegangen: etwa wie gegenkulturelles Leben und Kunst noch ihren Namen verdienen, wenn sie doch die ständig die Rohdiamanten und Filets der offiziellen Kulturökonomie liefern. Der mit dieser Rezeption verbundene zuweilen holprige oder gewaltsame Gestus im Versuch des Anschlusses und der Übersetzung auf die eigene Lage ist in Polleschs Bearbeitung stets präsent durch die grundkomische Übertragung einer fürs Denken und Diagnostizieren anhand von dritten Personen entstandenen Sprache in die Rede seiner ersten Personen.

Die Darsteller müssen Berge von Theoriematerial auswendig wissen und möglichst auch verstehen, daher verlieren sie alle, egal wie alt und professionell, ständig den Faden und treten so in einen Dialog mit Souffleuren ein, die oft ganze Dialogstellen alleine sprechen, während die erschöpften Darsteller zuhören und auf den geeigneten Moment warten, wieder in den Theoriegroove zu kommen. Sie geben so nicht nur ein ergreifendes Bild von Subjekten ab, denen selbst noch die ichstützende und legitimatorische Gegenrede gegen die Zumutungen ihres Lebens eingeflüstert werden muss, sondern auch die perfekte Illustration all der poststrukturalistischen Ideen von der Vorgängigkeit des Diskurses.

In letzter Zeit hat sich dieses Milieu und seine Protagonisten verzweigt und erweitert, ist weniger kenntlich als in den frühen 90ern und erzielt eher durch Publikationen überregionale Aufmerksamkeit. Auf genau die beziehen sich nun die ersten Teile der Prater-Trilogie. „Stadt als Beute“ ist der Titel eines von Klaus Ronneberger und anderen herausgegebenen Readers zur Stadtdiskussion und zu Fragen der Privatisierung des öffentlichen Raumes und der Ökonomisierung atmosphärischer Zonen: der Genius Loci als Ressource beim Standort-Marketing.

„Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiß-Hotels“ bezieht sich auf den von der früheren Büro-Bert-Begründerin und späteren Züricher Shedhalle-Organisatorin Renate Lorenz zusammen mit Pauline Boudry und Brigitta Kuster herausgegebenen Band „Reproduktionskontenfälschen! Heterosexualität, Arbeit und Zuhause“. Jochen Becker, der ebenfalls zu Büro Bert gehörte und in Berlin für die Ausstellung „Baustop Randstadt“ im NGBK federführend war, ist wiederum an der „Falsches Leben Show“ beteiligt, die zu den verschiedenen Rahmenprogrammen im Prater gehörte.

Ganz offensichtlich entnimmt Pollesch diesen Vorlagen aber nicht nur Ideen, sondern er erntet sie in ihrer ganzen prallen rhetorischen Dichte. Wie sonst eher die karlkrausistischen Jargonkritiker, übernimmt er die auffälligsten Diskurselemente und stellt sie aus, trennt die Ideen nicht von ihrer Sprachgestalt – dies aber nicht, um sie zu veralbern, sondern um sie als Theatereffekte einzusetzen. Der Diskurs muss auf die Bühne, in aller Pracht und in allen Lumpen.

Aber erst in „Sex“, inspiriert von dem gleichnamigen Theaterstück von und einigen Filmen mit Mae West, werden die zwei Anliegen von vorgetragener Theorie und schauspielerischem Eigensinn enggeführt. Jetzt werden auch die Vorteile der ökonomisierten, warenförmigen Gefühle erkannt: Lieber eine ausgehandelte Sexualität als eine, die auf traditionellen oder scheinbar neumodischen, im Kern traditionellen Normen basiert. Die Pointe ist dann nämlich, dass die gekauften Gefühle echt sind, dass die Liebhaber und Liebhaberinnen in „Sex“ ihre gekauften Geliebten ebenso lieben wie die gekauften Geliebten Angst bekommen, dass die Kunden zu viel von ihnen wissen.

„Sex“ exploriert die Vorteile des Gekauftseins und trägt sie ein in die generellen Vorteile einer Objektivierung des Selbst. Wie wäre es, wenn man sich von all diesen emotionalen Erpressungen lösen könnte? Wenn man sich ganz objektivieren und den „Besitz an sich selbst als Produkt formulieren“ (Minimal Club) könnte? Ja, genau, das wäre was, aber dann hat man das Problem, dass die „eigenen Wünsche“ beginnen, das Ausbeutungsverhältnis zu stützen, das Sex-für-Geld nun auch immer noch darstellt. In „Sex“ werden jedenfalls die Aporien, aber auch die Auswege der in den letzten beide Saisons aufgespannten Problematik offensichtlich. Sie führen auf den einen Kehrreim zu: ICH WILL DAS NICHT LEBEN.

Das rufen die Darsteller immer dann, wenn in einer Schlaufe zu viel, einer Spiralwendung zu oft das ihnen zugedachte Script in der Ökonomie des Individuellen klar geworden ist. Nicht „Ich will so nicht leben“ wie unklarere und unbewusstere Protestgenerationen vor ihnen, sondern transitiv DAS wollen sie nicht leben: Denn sie wissen, was sie nicht tun wollen, sie wissen, was DAS ist. Das ist ein Skript, das abwechselnd von ökonomischer Rationalität (selten, rar, attraktiv) oder traditioneller Normalität (natürlich) beherrscht wird und kein Außen dieser Alternative mehr kennt.

Heute weiß man wieder, dass man etwas nicht leben will, fängt wieder nach allen Aporien in Theorieschlaufen wie damals – vor 68 – beim Ich an, das Nein sagt. Unklar ist nur der geschichtsphilosophische Status dieses Gefühls: Ob man diese Phase auf einem Rückweg der Geschichte gerade aus der umgekehrten Richtung passiert, nachdem all die Jahre eines Bündnisses des Nichtwollens mit Politik oder Pop vorbei sind und man sich einfach, im regressiv enttäuschten Abbau aller Hoffnungen auf so ein Bündnis, erfolgreich nach 1964 durchgeschlagen hat. Oder ob man wieder bei ihr angekommen ist, auf sozusagen der nächst höheren Stufe der historischen Wendeltreppe und in vollem Bewusstsein der historischen Fehler und verpassten Chancen, aber auf der Höhe der heutigen Zeit und voller Vorfreude auf das nächste Bündnis.

Man hat zuweilen jedenfalls das Gefühl, dass sich Polleschs Subjekte und Diskurseffekte hilflos auf eine Vergangenheit berufen, wo Pop und Politik oder eines von beiden noch mit dem DAS NICHT LEBEN WOLLEN zusammengingen.

Gerade heute aber, so scheinen sie zu ahnen, im Zeitalter der geplanten Synergien, kriegen dieses unlustige oder gar widerspenstige Ich und seine Wünsche nicht mehr historisch Recht. Sie können sich nur im Wissen über sich selbst auflösen oder trotzig brüllen, so nicht leben zu wollen. Vielleicht kommt ihrer protopolitischen Genervtheit in ein paar Jahren ja doch etwas zu Hilfe, eine Konstellation, genauso überraschend wie für die armen schwarzweißen Filmhelden von 1965 die Zuspitzungen des Jahres 1968 gewesen sein mögen – aber es würde wohl etwas ganz Anderes sein müssen.

Die ungekürzte Fassung dieses Essays findet sich in der aktuellen März-Ausgabe der Zeitschrift „Theater heute“. Dort steht auch René Polleschs Stück „Sex“.

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