Essayismus im Endstadium

Explorieren Sie den Locus classicus. Es wird Ihr Leben für immer verändern

„Ein Semester Soziologie, bisschen Publizistik dazu, dann hört sich das schon ganz anders an“

Begonnen hatte es in den Achtzigerjahren. Ich war jung, hatte Erlebnishunger, und zwar nicht nur den kleinen zwischendurch, sondern einen Mordsappetit auf volle Pulle alles mit Schuss, subito. Also Berlin, klare Sache: Ballin, jjup. Die Stadt veränderte mich: Nach kurzer Zeit in Berlin war ich zu einem Fanatiker des Plusquamperfekt herabgesunken und hatte begonnen, seltsame Sachen zu sagen: „Schuld war nur der Bossanova jewesen, wa“, solches Zeug, slawisch bis zum Gehtnichtmehr. Weil ich aber von Antje Vollmer gelernt hatte, dass Verrohung stets mit der Sprache beginnt, war mir auch das Leben aus dem Ruder gelaufen. Ich war also ein wenig sittlich verwahrlost gewesen, Geschlechtsverkehr, die Schiene, Frauen, manchmal war sogar Alkohol im Spiel gewesen. Mit einem Wort: Es stand schlimm um mich.

Zu einem richtigen Arzt traute ich mich längst nicht mehr, aber ich kannte den Veterinär Schmissas, einen Schulfreund aus Brönninghausen. Wem soll man vertrauen, wenn nicht einem Mann, der sein halbes Leben lang bis zur Schulter hinterwärts in einer Kuh stak, um ein Kälbchen zu holen? Außerdem war Schmissas wie ich ein genetisches Gemisch aus Westfalen und Ostpreußen, und er kannte das Problem der Berliner Sprachvergrobung aus eigener Erfahrung. Als ich allerdings im Wartezimmer seiner Praxis mit einem alten Frauenzimmer und ihrem Cockerhündchen auf einen Termin wartete, war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob das so eine gute Idee gewesen war.

Schmissas zerstreute meine Bedenken mit links. „Berliner Proll-Down-Syndrom“, sagte er. „Unangenehm, aber simpel zu therapieren. Ein Semester Soziologie, bisschen Publizistik dazu, dann hört sich das schon ganz anders an.“ Ich betrachtete ihn, wie ein Ertrinkender einen Rettungsschwimmer ansieht. Die Worte des Tierarztes waren Manna für mich. „Wenn du erst mal ein halbes Jahr geschwollen dahergeredet hast, wird dir das ganz natürlich vorkommen. Ein Beispiel: Andere entdecken etwas – du explorierst es. Vastehste?“ Ich verstand überhaupt nicht, nickte aber, damit mein Wohltäter nicht zu sprechen aufhörte. Er dachte gar nicht dran. „Als Erstes trittst du in die SPD ein und wirst da Chefdenker. Keine Angst, das ist kinderleicht, das kann jeder. Die sind derartig auf dem Hund, die nehmen jeden und freuen sich, als würde Jesus persönlich vorbeigelatscht kommen. Und vorher geht du beim Optiker vorbei, kaufst dir eine Brille mit Fensterglas, kann billig sein, von Fielmann, irgendwas, egal, Hauptsache Gedöns im Gesicht, die Nummer zieht immer noch, ist ein echter Klassiker, und dann setzt du dir die Brille schief auf die Nase und sagst: ‚Ich habe vor, hier den Locus classicus zu liefern.’ Ich schwör dir, die Typen liegen dir zu Füßen.“

Ich musste wohl etwas skeptisch gekuckt haben, denn Schmissas fasste mich scharf ins Auge. „Wenn du weiter rumhängen willst als Gefühlsmensch, Streuner und Prolet, kannst du das ja tun. Ist ja dein Leben, dein“ – er lächelte etwas fies – „factum brutum. Aber“ – er begeisterte sich an seiner flammenzüngelnden Rede – „wer was werden will, der muss sich schrauben. Und wenn dir einer draufkommt, gib ihm Zunder. Vergiss niemals, von Denkverboten zu sprechen. Gib ihnen richtig Saures, immer schön von oben herab: ‚Versuchen Sie nicht, mir ex post etwas zu verbieten!’ So musst du reden. Ex post ist wichtig, das musst du dir merken: ex post. Das bringt’s. Alter Schwede! Sol lucet sukkubus, und kratz mich mal am inkubus!“ Doktor Schmissas reckte beide Daumen nach oben; sein Grinsen war so breit wie die Werre, in der wir als Kinder geschwommen waren.

„Aber ich weiß doch nicht mal, was das heißt!“, wandte ich ein. Der Tierarzt schmetterte mich ab. „Pass mal auf. Wenn du sagst, ‚Wir lassen uns das Singen nicht verbieten, das Singen nicht und auch die Fröhlichkeit’, dann ist das einfach nur blöde. Aber wenn du richtig zulangst mit ‚Wir lassen uns das Singen nicht verbieten, und schon gar nicht ex post, und auch die Fröhlichkeit, verstehste, Meister, Arsch lecken, ex post, ja!’, dann hast du sie alle an der Wand. Dann hast du sie bei den Eiern. Das schüchtert die ein, und es klappt fast immer. Und wenn einer sagt, ‚Der Typ hat doch Essayismus im Endstadium’, dann macht das gar nichts. Den machst du platt! Du wirst den Bundeskanzler kennen lernen, und er wird dir sagen, wie schlau du bist. Du kannst alles machen. Du musst dich nur richtig aufpumpen.“

Die Lektion war beendet. Ich dankte dem alten Freund, er wehrte ab – ihm selbst fehle ja leider jeder Ehrgeiz, er sei mit seinen Tierpatienten glücklich, aber um mein Talent sei es doch ein Jammer, und ich solle mich mal vernünftig auf die Socken machen und durchmarschieren. Seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Schon als ich die Praxis verließ, war ich im Begriff, ein anderer zu werden: Im Wartezimmer trat ich dem alten Mütterchen den Stuhl unter dem Hintern weg, entrang ihr ihren jungen Cockerspaniel, puhlte mir in der Kimme und zog von dannen. Ich machte den Kötz und mich gleichermaßen mannscharf und nahm ein Pseudonym an, einen Kriegsnamen: Doktor Mike Rutky.

Alles, was Veterinär Schmissas mir prophezeite, ist eingetreten. Der Kanzler war wirklich sehr freundlich zu mir gewesen, und wenn mir einer dumm kommen will, dann haue ich dem den Locus classicus um die Ohren, dass er nicht weiß, ob er explorieren oder explodieren soll, aber so was von ex post. Nur eins ist seltsam: Als ich meinem alten Freund Schmissas das Bundesverdienstkreuz zeigte, das Gerhard Schröder mir geschenkt hatte, sah er mich an und lachte, laut und schallend und anhaltend, und er hörte nicht mehr auf zu lachen, nie wieder.

WIGLAF DROSTE