Lucky im Niemandsland

Satire über Ersatztüren und Bauernopfer: Schwarze Tafeln im 3001  ■ Von Urs Richter

Aber greifen wir nicht vor die unvollendeten Forschungen nichtsdestoweniger prämiert von der Akakakakademie der Anthropopopometriein Burg am Berg von Testu und Conard festgestellt wurde bei Ausschaltung aller Fehlerquellen bis auf die von den menschlichen Berechnungen untrennbaren Irrtümer (Samuel Beckett, Warten auf Godot)

Für was eine Schultafel alles taugt: Mit Kreide kann man seinen Namen draufschreiben. Man kann sich hinter ihr verstecken. Sie lässt sich sauber wischen mit Wasser. Man kann sie aber auch mit Lehm beschmieren und als Tarnschild gegen angreifende Hubschrauber verwenden. Man kann sie spalten und zum Schienen eines Beinbruchs benutzen. Oder als Krankenbahre. Oder als Ersatztür eines zerbombten Hauses. Oder als Mitgift.

Samira Makhmalbafs neuer Film Schwarze Tafeln trägt sein Leitmotiv bereits im Titel. Die Schultafeln, die die beiden Lehrer Said und Reboir durchs iranisch-irakische Grenzgebiet schleppen auf der Suche nach irgendjemandem, der ihnen für eine Lektion in Schreiben und Lesen ein Stück Brot abgibt, sind multifunktional: am Ende bleibt zwischen ursprünglichem Zweck und Zweckentfremdung kein Unterschied. Das anfangs wuchtige Sinnbild einer Grundlage, auf der Kultur und Bildung in die abgelegene Bergregion und zu den von Armut und Krieg gepeinigten Menschen getragen werden sollen, demontiert der Film zügig zu einem unhandlichen Requisit, um das herum sich ein absurdes Theater entwickelt. So wie Luckys Nonsens-Monolog in Be-cketts Stück Warten auf Godot bitterlustig den Leerlauf der Kultur vorführt in einer Welt, die alle kulturellen Kategorien verloren hat, so inszeniert auch Makhmalbaf ihren Film weder als humanistisches Märchen noch als gesellschaftskritisches Minderheitenporträt. Sondern, verblüffend genug, als Satire.

Verblüffend deshalb, weil man das Thema für ironieresistent halten sollte. Said begegnet auf seiner Odyssee einer gebrechlichen Karawane alter Kurden, die einst vom irakischen Militär aus ihren Dörfern gebombt wurden. Die Angst vor dem Giftgas steckt ihnen noch immer in den morschen Knochen. Jetzt, nach vielen Jahren hoffnungsloser Umherzieherei, wollen sie in die Heimat zurück, zum Sterben, wie sie beteuern. Das einzige, was sie sich von Said zeigen lassen, ist der Weg zur Grenze und wo die Tretminen liegen. Eine Handvoll Nüsse ist sein Lohn.

Reboir dagegen trifft auf eine Horde Jungs, die krummgearbeitet und barfuß viel zu schwere Bündel über die Pässe schleppen, kindliche Schmuggler zwischen verfeindeten Staaten. Wozu sollen sie ihre Namen buchstabieren lernen, wenn doch jede Minute Kugeln diese Namen auszulöschen drohen und der knurrende Magen sowieso keine Zeit lässt für luxuriöse Arbeitspausen?

Das Elend der Beladenen und Verfolgten kontert die Regisseurin durch nonchalanten Humor. Um endlich doch eine Zuhörerin seiner ABC-Litaneien zu haben, heiratet Said kurzerhand Halaleh, die einzige Frau im Flüchtlingstreck. Ob sie den Bräutigam auch liebe, beantwortet die Braut mit einem furztrockenen „Mein Herz ist wie ein Zug, an jedem Bahnhof steigt jemand ein und aus“. Im Folgenden wird sie den Gatten nur „Takthe Siah“ nennen, Schultafel.

Während der kurzen Hochzeitszeremonie hebt sie unbeirrt ihren kleinen Sohn ab, der endlich mal Pipi machen soll. Ein paar Meter weiter wird dessen Opa von zwei schnatternden Alten gestützt, auch er müsste dringend mal Wasser lassen, aber die Prostata klemmt. Später sehen wir die Senioren im Fluss herumalbern, Plätschergeräusche sollen ja animieren. Die generationenübergreifende Blasenschwäche wird zum running gag des Films. Zwischendurch gönnt man sich ein entspannendes Murmelspiel mit Nüssen. In einem Nachbartal sieht Reboir derweil zu, wie sich die kleinen Schmuggler auf allen Vieren in einer Ziegenherde verstecken, um an Soldatenposten vorbeizurobben.

Natürlich will man bei solchen Bildern lachen. Und strategisch klug verbietet Makhmalbaf dieses Lachen keineswegs, es kündet von einem ganz anderen, heiteren Film, der über ihre Figuren gedreht werden könnte, wäre nur deren Leben freier. Wären sie nicht Bauernopfer eines Bekloppten in Bagdad, oder ignorierte Hinterhöfler des Iran. Politischem Fatalismus gibt die Regisseurin allerdings noch weniger nach: Als am Ende die Grenzsoldaten zu schießen beginnen, kann Opa vor Schreck endlich wieder strullern.

täglich, 20.30 Uhr, 3001