: Welt verdichten
„Alles fängt mit Beobachtung an“: Der Comiczeichner Ben Katchor ist ein Anwalt der Stadtmenschen. Gerade ist er Fellow an der American Academy und zeichnet einen Berlin-Comic, in dem der Potsdamer Platz keine große Rolle spielen wird. Ein Porträt
von ANDREAS BUSCHE
Eine Person, die man nie zuvor gesehen hat, in einer größeren, nicht strukturierten Menschenansammlung ausfindig zu machen, ist eine echte Herausforderung. Die Rose im Knopfloch kommt heute nicht mehr in Frage. „Achten Sie einfach auf einen Mann mittleren Alters, der am wenigsten nach Comicautor aussieht. Das ist Ben Katchor“, hatte mir die Frau im Pressebüro der American Academy mit auf den Weg gegeben. Ich hatte ihr noch entgegnet, dass ich mich bescheuert an unserem Treffpunkt umgucken würde, daran könnte er mich erkennen. Einen Comicautor treffen, der in Comic-Kreisen bzw. dem, was sich der Nicht-Comicleser so darunter vorstellt, keine große Reputation besitzt: Ben Katchor ist einer der interessantesten Zeichner der letzten Jahre, das erkennt sogar der pflichtbewusste Laie.
Dass der Fan des Superhelden-Comics nichts mit seinen kleinen Geschichten anfangen kann, ist Katchor egal. Das Desinteresse ist ganz seinerseits. Seine Fans findet Katchor eher unter Literaturkritikern. Denn Katchor überschreitet die Lesegewohnheiten seines Genres wie nur wenige seiner Kollegen, bleibt stilistisch hart an der Realität und hat mit seinen kurzen Strips trotzdem einen ganz eigenen Realismus geschaffen, in dem sich Spurenelemente realer und imaginärer Geschichte verflechten.
In den 80ern ist Katchor von Art Spiegelmann, seit seinem Holocaust-Comic „Maus“ der bekannteste Vertreter dieses marginalen Sub-Genres, für sein wegweisendes Magazin Raw entdeckt worden. Seit 1988 veröffentlicht er wöchentlich in diversen amerikanischen Zeitungen und im Design/Architektur-Magazin Metropolis, in dem seine nostalgischen kleinen Strips verloren aussehen. Irgendwie scheinen seine Figuren aus einer besseren Zeit zu kommen, und es kostet Katchor immer genau acht Bildfenster, um auch den Leser in dieses Gefühl zu wiegen.
Gefunden haben Katchor und ich uns an jenem Tag dann tatsächlich noch. Die Situation wurde dann hochgradig paradox: Da saßen wir also in einem Café an einem Ort, dem Ort, der genau das repräsentiert, vor dem Katchors Geschichten immer irgendwie eine sichere kleine Zuflucht geboten haben, und er erzählt von dem Kulturalismus urbaner Räume, der Wechselwirkung von diesen Räumen und den Menschen darin (davon handeln eigentlich alle seine Geschichten) und wie schwer es mittlerweile für ihn geworden ist, diese Spur noch aufzunehmen. Der Potsdamer Platz, unser Treffpunkt, ist der kulturlose Ort par excellence. Die letzten signifikanten Marken sind hier die Logos der Werbekultur, deren Träger sich nur noch aus großen Industrieketten rekrutieren. Das Individuum bleibt Statist in diesem Zirkus. Aber noch hinterlässt es kleine Spuren.
Am Anfang von jeder Katchor-Geschichte steht eine Wanderschaft. Katchor ist ein Beobachter, der wie ein Seismograf die unsichtbaren Schwingungen seiner Umwelt aufnimmt. Er streift durch die Straßen, lässt sich von seiner Intuition leiten, liest in der Architektur: sucht.
„Alles fängt mit Beobachtung an“, erzählt er, „das mache ich seit Jahren so, egal wo ich lebe. Ich sammele. Hinter jedem Gegenstand in der physischen Welt steckt eine Geschichte. Das ist die Natur der Dinge. In diesem Zuckertütchen hier (greift eine Zuckerverpackung, die auf dem Tisch liegt) verbirgt sich eine ganze Welt von kulturellen Entscheidungen: Warum das Tütchen genau diese Form hat oder jene Farbe. Es ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Und von dieser Erkenntnis aus spüre ich weiter, entwickle einen Plot. Die soziologische, ökonomische und kulturelle Historie interessiert mich nicht, mich interessieren andere mögliche Geschichtsschreibungen. Wie eine neue Route. Poetische Erklärungen, warum die Welt so geworden ist, wie sie ist. Die kulturelle Erklärung ist die billigste.“
In Katchors Graphic Novel „The Jew of New York“ gibt es eine alte Straßenkarte von New York aus dem frühen 19. Jahrhundert. Der Entwurf stammt von der Eerie Lake Soda Water Company, die zu dieser Zeit an Plänen arbeitete, ganz New York mit einem Frischwassersystem zu versorgen. Auf der Karte sehen die Pipelines allerdings aus, als wäre New York von einem feinen Geflecht Blutgefäße durchzogen. Die Stadt als Organismus. Klar, dass Katchor diese Zeichnung seiner Geschichte vorangestellt hat: Ein besseres Bild für seine Vorstellung von Stadt hätte er gar nicht finden können.
Katchor bezeichnet „The Jew of New York“, ein Kompendium älterer kurzer Strips, als ein Buch über „Systeme, die nicht funktionieren“: Der jüdische Politiker Mordecai Manuel Noah versucht im Jahr 1825 auf einer Insel im Niagara Lake den ersten jüdischen Staat zu errichten. Ein Naturforscher will die Verwandtschaft von Juden und Indianern beweisen. Ein Pelzjäger macht sich auf die Suche nach Bibern; aber sie sind bereits ausgerottet. Und dann die Serie Soda Company mit ihren Bewässerungsplänen. Sie alle scheitern, aber aus diesen zum Teil historisch belegten Geschichten hat Katchor eine Milieustudie entworfen, „die überzeugende Illusion einer Stadt“, wie Katchor es nennt.
„Meine Geschichten sind keine Charaktergeschichten, die Figuren werden erst durch die Stadt lebendig. Es geht mir vor allem um Orte, Milieus, deren Produkt die Menschen sind. Meine Arbeit ist die eines Urbanisten. Urbane Historiker hören jedoch bei den Fakten auf zu forschen. Ich fange dort erst an.“ Mit dem Immobilienfotografen Julius Knipl, seinem Alter Ego, hat Ben Katchor trotzdem auch eine der skurrilsten und melancholischsten Comicfiguren der letzten Jahre erfunden. Dieser Knipl durchstreift in Katchor-Manier täglich die Straßen von New York und sucht dort nach den Rudimenten einer vergangenen urbanen Identität. Und hinter jedem Fundstück verbirgt sich eine erzählbare Erinnerung. „Die Details müssen sich echt anfühlen“, meint Katchor. „Das Arbeiten mit kurzen Strips ist sehr ökonomisch. Ich kann eine ganze Welt auf acht Bilder verdichten.“
Inzwischen sind bereits zwei Bücher mit Knipl-Strips erschienen. Bis Mai befindet sich Ben Katchor noch in der Stadt, als Fellow der American Academy. In dieser Zeit soll ein kleiner Berlin-Comic entstehen, vielleicht auch endlich ein Anlass, eine von Katchors Geschichten auf Deutsch zu veröffentlichen. Für seine Arbeit ist Berlin natürlich eine Goldgrube, trotz Potsdamer Platz. „Jede Stadt hat ihren eigenen Rhythmus, ich versuche ihn aufzuspüren. Die jüdische Tradition interessiert mich an Berlin weniger, davon habe ich zu Hause in New York genug. Aber Berlin besitzt eine faszinierende Architektur und erschreckende Geschichte.“ Katchor lächelt milde. Als Anwalt der Stadtmenschen, wie er es nicht ohne Ironie nennt, könnte man sich wahrscheinlich kaum eine geeignetere Person als Katchor vorstellen.
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