: bernhard pötter über kinderAhnenforschung mit dem Echolot
Gruselig: Wir hören uns selbst in unseren Kindern. Und in uns selbst unsere Eltern
„Papa, was ist ein Echo?“, fragte Jonas vom Kindersitz hinter mir, als wir gerade unter der Autobahnbrücke durchradelten. „Ein Schrei, der zurückkommt“, rief ich über die Schulter. Dann dachte ich: gute Idee. Ich bremste und wir probierten alle Spielarten von „Huuuaaaaah!“ und „Haaaallooooo“. Über uns donnerten die Laster, unter uns plitschte die Spree ans betonierte Ufer, und wir spielten mit der Schallmauer, bis wir heiser waren.
Meine Antwort war natürlich viel zu didaktisch. Ich hätte auch einfach sagen können: „Du.“ Denn Kinder sind die Inkarnation des Echos. Sie reflektieren den Schall deutlich besser als eine steile Bergwand bei Windstille. Und sie verzögern den Widerhall, um die Erziehungsberechtigten ohne Vorwarnung zu überfallen. Wenn wir als Kinder frech wurden, sagte meine Mutter: „Das kommt alles mal wieder auf euch zurück.“ Ich hätte nie gedacht, dass sie das so meinte.
Aber genau so ist es. „Ich will das nicht mehr hören!“, sagt Jonas, wenn Anna ihn zum dreiundzwanzigsten Mal bittet, die Duplosteine aufzuräumen. „Wenn du dich wie ein Baby benimmst, wirst du wie ein Baby behandelt“, belehrt er seine Freundin Petra am Küchentisch. „Lass dir ruhig Zeit“, meint er, wenn ich ihn verspätet wie immer morgens in den Kindergarten schleife. Und seiner kleinen Schwester erklärt er mit gesenkter Stimme und tatsächlich erhobenem Zeigefinger, dass man Stecknadeln nicht in den Mund stecken darf: „Wenn du die runterschluckst, ist das Geschrei groß.“ Ich gestehe: All das sind Originalzitate aus unserem Elternsprech. Ab und zu verirrt sich dann allerdings auch ein fremdes Zitat in seinen Wortschatz. „Ich hau dir eine runter“, sagt Jonas zu mir, als ich ihn gegen einigen Widerstand ins Bett bringe. Wir sagen so was nicht. Und wir schlagen unsere Kinder nur in Notwehr.
„Ich weiß gar nicht, was du hast“, sagt Anna. „Kinder lernen eben Sprechen vom Zuhören und Nachmachen. Sie begreifen schnell, wie das funktioniert und dass es da einen tollen Mechanismus gibt: Wir sagen etwas zu ihnen, und dann passiert etwas.“ „Aber nie das, was wir sagen.“ „Das ist doch egal“, sagt meine Frau. „Sie merken, dass auf Reden Handeln folgt. Das wollen sie eben auch erreichen.“
Das wäre schon schlimm genug. Aber es bleibt ja nicht dabei, sich selbst aus dem Mund der Nachkommen zu hören. Aus meinem eigenen Mund höre ich auch noch meine Eltern. Und das ist wirklich gruselig. Denn es fügt der langen Kette von Verhaltensmustern, die offenbar erblich und vererbbar sind, eine ganz neue Variante hinzu. „Jonas, zum letzten Mal: ZIEH! DICH! AN!“ ist etwa mein Standardkommando am Morgen, das mich deutlich an meine Kindheit erinnert. Oder diese Klassiker: Warum darf das Kind nicht barfuß im Schneeregen spielen? „Du holst dir den Tod, und ich muss dich pflegen.“ Und warum dürfen nur Mama und Papa das Messer ablecken und nachts fernsehen? „Wir können das, weil wir Erwachsene sind.“ Früher habe ich diese „Erklärungen“ gehasst. Heute gehen sie mir am Ende eines langen Tages flüssig von den Lippen.
Diese Art von Ahnenbeschwörung lässt Schlimmes vermuten. Möglicherweise lernen Kinder von klein auf, die Stereotypen ihrer Umgebung nachzubeten. Möglicherweise sind Eltern vom nächtlichen Herumtragen ihrer wimmernden Bälger und vom alltäglichen Karrierekampf intellektuell so geschwächt, dass ihnen keine kreativen Einfälle für ihre kleinen Kreaturen mehr kommen. Möglicherweise gibt es einen genetischen Vorrat von Erziehungsplattitüden, die bei einer Schwächung der Abwehrkräfte sofort durchbrechen. Sagt jedenfalls mein hämischer, kinderloser, besser verdienender Bekannter S.
Aber das ist alles Quark. Klar, wir hören uns in unseren Kindern. Und wir hören unsere Eltern in uns. Aber auch andere Leute hören Stimmen, die ihnen noch weit schlimmere Dinge befehlen. Und klar, wir sind trainiert wie Pawlowsche Hunde. Kommt der Schlüsselreiz: „Ich will heute aber nicht Zähne bürsten!“, läuft der Speichel und ein Automat in unseren Stimmbändern sagt ganz mechanisch: „Dann gibt es keine Gutenachtgeschichte“, während wir blicklos in den Spiegel starren und unser Hirn sich wattig anfühlt.
Doch Echomanie ist kein Privileg von Eltern. Fragen Sie mal meinen Bekannten, ob sein Pullover neu sei. Garantiert grinst er Ihnen ein „Nein, mit Perwoll gewaschen“ entgegen. Sein Volkswagen? „Läuft und läuft und läuft.“ Seine Einkäufe? „Die Freiheit nehm ich mir!“ Sein Bierkonsum? „Nicht immer, aber immer öfter.“ Seine Bank? „Wir machen den Weg frei!“ Und seine Lebensziele? „Mein Auto, mein Haus, mein Boot!“
Fragen zu Kindern? kolumne@ taz.de
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