Wo Urbremer um Weserbrassen stritten

■ Archäologen haben die Kriechspur eines Maulwurfs, Lederreste auf Pflaster und eine Siedlung aus dem 8. Jahrhundert auf dem Marktplatz ausgebuddelt. Die Geschichte des milliardenverschuldeten Kleinstaats muss umgeschrieben werden

Schon zu Neanderthalerzeiten streiften Jäger und Sammler binnen und buten durch die damals noch baumlose Bremer Tundra. Aber: Erst knappe 150.000 Jahre später haben sich die ersten Siedler in Bremen niedergelassen. Und zwar mitten auf dem Marktplatz. Archäologen haben sich in den letzten Wochen bis in graue Vorzeiten gebuddelt. „Und die ersten Überreste einer flächigen Siedlung gefunden“, sagt Landesarchäologe Manfred Rech. Eine Feuerstelle mit Gräten, Pferde- und Rinderknochen ist in gut drei Metern Tiefe zu sehen, Überreste von ein paar Holzpfählen staken in die Luft. Vielleicht stand hier mal ein 20 Meter langes „Haus“, in dem sich scherfsche mit perschauschen Urahnen um die besten Weserbrassen gestritten haben. Alles aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Rech ist auf jeden Fall verdammt stolz: „Das ist eine kleine Sensation.“ Und logisch: „Die Geschichte Bremens muss umgeschrieben werden.“

Die Urbremer waren kernige Gesellen: Krieger, Bauern, Fischer und Viehzüchter auf ewiger Kohlfahrt, treu ergebene Untertanen des Sachsenherzogs Widukind im Dauergefecht gegen Wickies Eltern. Und es müssen schon ziemlich viele im heutigen Stadtkern gewesen sein. Ausgrabungen in Mahndorf, Hemelingen und Grambke haben bereits nachgewiesen, dass die Gegend vom 1. bis 5., möglicherweise bis ins 9. Jahrhundert besiedelt war.

Aber erst durch den Fund der Archäologen ist jetzt nachgewiesen, dass es in Urbremen schon vor gut 1200 Jahren pulsierte. Immerhin hatte Karl der Große die Domburg für seinen Bischof Willehad – den Vorläufer des Doms – ausgerechnet mitten in der City gebaut, aber den Archäologen fehlte es an Christen, die in die Bistumskirche hätten pilgern können.

„Mit der Domburg sollten die Bremer christianisiert werden“, erklärt Ausgrabungsleiter Dieter Bischop. Vorher habe an der Stelle der Domburg wahrscheinlich ein heidnisches Heiligtum gestanden, an dem „sie Wotan oder Irminsuhl vergötterten“.

Bislang war das Datum der größeren Ansiedlungen im heutigen Stadtkern ein archäologisches Rätsel. In der Baugrube der alten Börse – heute steht dort die Bürgerschaft – waren zwar bereits 1862 Urnen, in der Baugrube der Bürgerschaft 1963 ein Kugeltopf in einer Herdstelle gefunden worden, die aus dem 8. Jahrhundert hätte stammen können. Doch diese Funde reichten für die Annahme noch nicht aus, hier hätte die wundersame Geschichte des zwergenhaften milliardenverschuldeten Kleinstaats begonnen.

Doch jetzt kann sich jeder davon in der Baugrube auf dem Marktplatz überzeugen. Aus den Sedimenten können die Archäologen wie andere aus einem Roman lesen. Mit Ziffern haben sie die Ablagerungen aus den verschiedenen Epochen markiert.

Auf dem Grund eine Neun. Sie steht für die Düne, die sich hier zu Vorzeiten an den Ufern der Weser und der kleinen, längst verschütteten Balge gebildet hatte. Dann die Acht, wo die Archäologen tatsächlich die Kriechspur eines Maulwurfs aus Kaiser Karls Zeiten freigelegt haben – sowas wie Buddels Urahn. Die Sieben markiert dann den Überflutungshorizont der Weser, die Fünf die revolutionäre Stadtkern-Entdeckung.

Langsam steigt die Numerierung an bis zum ersten Pflaster vor dem Rathaus, das 1403 errichtet wurde. Die Graber haben zwischen den Steinen Tierknochen und Lederreste entdeckt. Die haben wohl Bremer Kaufleute und Händler hier festgetreten, bevor sie in Richtung Balge spazierten, die damals noch hinter dem Schütting floss. „Auch Till Eulenspiegel könnte hier marschiert sein“, vermutet Grabungsleiter Bischop. „Im 15. Jahrhundert war den Bremern der Platz vor dem Rathaus wohl nicht mehr repräsentativ genug. Da pflasterten sie – etwa 1,30 unter dem heutigen Marktplatz – alles neu“, erklärt Landesarchäologe Rech. Und genau das wird auch in etwa vier Wochen passieren, wenn die Pflasterer des 21. Jahrhunderts anrücken, um dem Marktplatz wieder mal ein neues Gesicht zu geben. „Dann ist hier wieder für 60, 70 Jahre alles dicht“, bedauert Rech. Dabei würde e zu gerne weiter buddeln. Nach einer Mauer, die „Brema“ einst geschützt haben soll – mit einem Wachturm genau vor der Bürgerschaft. Kai Schöneberg