: Vertraut vergesslich
Sympathischer Trosttext in Zeiten großer Mutlosigkeit: Jutta Lampe gelingt es in Edith Clevers Inszenierung von Samuel Becketts „Glückliche Tage“ am BE, dass wir uns alle intensiv mit der Winnie in uns auseinander setzen
Man wird müde. Man wird vergesslich. Immer kürzer werden die Schlaufen, in denen die Gedanken zurückkehren, und man merkt es nicht einmal. Eigene Sätze klingen plötzlich wie Wiederholungen, und Textbausteine flottieren frei. So sitzt man, so sitze ich eines Abends in einer Premiere der „Glücklichen Tage“ von Samuel Beckett im Berliner Ensemble und vergesse andauernd, dass dies da vorne die berühmte Schauspielerin Jutta Lampe ist und dies ein Stück Weltliteratur. Nein, das klingt ständig so vertraut, war nicht noch gestern, im Gespräch mit einer Freundin im Café – der Himmel draußen war fast so blau wie der auf Bühne –, genauso die Rede vom „Weitermachen“, „darf nicht klagen“ und „geht zu Ende“. Die Bilder verschwimmen.
Dabei sind wir erst knapp über vierzig, so alt wie das Stück Text. Als Beckett „Glückliche Tage“ 1961 herausbrachte, galt das als „absurdes Theater“: Eine Frau, Winnie, die über zwei Stunden lang erst bis zur Taille und dann bis zum Kopf in einem Sandhügel steckt und deren Leben fast auf den Inhalt ihres „Sacks“ zusammengeschrumpelt ist – eine Brille, ein Kamm, eine Zahnbürste, eine Pistole. Requisiten für kleine Verrichtungen, um durchzuhalten und nicht vor der Zeit auszusteigen. Lebendig begraben – dieses Bild schien einst so ungeheuerlich, dass man vor seiner Ausdeutung zurückschreckte. Winnie, die Kunstfigur, galt als philosophisches Konstrukt, und Deutungskompetenz musste erlesen werden quer durch eine Nachkriegsliteratur, die den Menschen gern neu erdachte und tradierte Kategorien des Sinns in Frage stellte. Ihn in die Wüste schickte und der Voraussetzungslosigkeit aussetzte. Tabula rasa. Nachdem das Vertrauen in moralische Verbindlichkeiten einmal in Grund und Boden gebombt war.
Dieser Schock des Zivilisationsbruchs hat als Kontext heute viel Staub pädagogischer Bemühungen angesetzt. Edith Clever, Regisseurin der Inszenierung, die vom Burgtheater Wien und vom Berliner Ensemble koproduziert wurde, und Jutta Lampe bemühen denn auch kaum noch den endzeitlichen Schrecken, der dem Stück innewohnt. Stattdessen rückt der Monolog, der nur selten unterbrochen wird von Willie (Urs Hefti), der neben Winnie in seinem Grab rumkriecht, in seiner banalen Alltäglichkeit furchtbar nahe an seine Zuhörer heran.
Was ist nur passiert, dass die Panik vor dem Altwerden so wachsen konnte in unserer Zeit? Weil Arbeit und Familie so oft versagen als sichere Brücke durch die Jahre? Weil alle Zielvorstellungen als Leistungsträger keine Flexibilität mehr gegenüber dem Altern aufweisen? Weil im hübschen Bild urbaner Vielfalt die verlangsamten Rhythmen nicht mehr vorkommen? Das alles kann Winnies Erfinder noch nicht sehr beschäftigt haben. Trotzdem erlaubt sein Stück, mit diesen Ängsten zu ihr in den Sandhügel zu kriechen. Ja, so steckt man fest; ja, so baut man sich eine Routine als Hilfskonstruktion durch die Tage.
Im Programmheft ist ein kleines Daumenkino mit gedruckt, da kann man Beckett in fotografischen Porträts von der Jugend bis ins Alter verfolgen. Zweifellos ist die Inszenierung als Trosttext bei Krisen vorzeitiger Mutlosigkeit nicht der großartigste Gebrauch, den man von den „Glücklichen Tagen“ machen kann, aber dennoch ein sympathischer. Man könnte Jutta Lampe, die zum Ensemble der Schaubühne in Berlin seit den frühen Inszenierungen von Peter Stein bis zum Wechsel des Intendantenteams vor zwei Jahren gehörte, auch unterstellen, damit die persönliche Erfahrung, von einer ihre Jugend als Logo hochhaltenden Generation verdrängt worden zu sein, ästhetisch zu markieren – aber dafür ist sie wieder viel zu souverän und zu liebenswürdig.
Winnie sah man auf der Bühne schon ätzender, zynischer, verbitterter und sich auch schärfer unter die Haut der Normalität fräsend. Die Lesart von Jutta Lampe ermöglicht es dagegen, sich mit der Winnie in jeder von uns auseinander zu setzen – nur sehr lange in Erinnerung wird man sie nicht behalten. Man wird vergesslich.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Nächste Aufführungen am Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte, am 10. 4. und 3. 5. jeweils 19.30 Uhr
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