: Identitäts-Begradigung ausgeschlossen
■ Helga Hirsch stellt in Ich habe keine Schuhe nicht deutsch-polnisch-jüdische Patchwork-Biographien vor
Was Stereotype so bequem macht, ist ja nicht allein ihre Schlichtheit. Auch nicht die Tatsache, dass ein deftiges Vorurteil für das Denken ein sanftes Ruhekissen darstellt. Was Aneignungen schwarzweißer Bewertungsskalen letztlich wirklich stammtisch-kompatibel macht, ist die Tatsache, dass es zügig austauschbar ist, wenn die Situation es opportun erscheinen lässt. Und dass aus dem netten blitzschnell der „schon immer verdächtige“ Nachbar werden kann, beweist jeder Bürgerkrieg – in welcher Region auch immer.
Doch auch ein ethnisches Gemisch, zusammengesetzt aus Patchwork-Biographien mit uneindeutigen Verläufen, bietet fruchtbaren Grund für Stereotypenbildung: Im Polen der dreißiger und sechziger Jahre hat die Journalistin Helga Hirsch, von 1988 bis 1994 Polen-Korrespondentin der Zeit, nach ihren „Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel“ gesucht. Dargeboten unter dem Titel Ich habe keine Schuhe nicht, blättert sie ein Panorama vielfältiger Vorurteile auf, die sich unter anderem im Zusammenhang mit der Vertreibung von Polen und Deutschen aus den jeweiligen Ostgebieten ihres Landes – auch perfide „Westverschiebung Polens“ genannt, ergaben.
Protagonisten- und Fremdperspektiven werden in dem Band gegenübergestellt, Grenzgänger zwischen den Identitäten präsentiert. Die Geschichte von der jüdischen Frau, die, bevor sie selbst ins KZ abtransportiert wurde, ihr Baby einer polnischen Familie übergab, ist in dem Band zu finden, unter dem Titel „Er wollte sein wie alle anderen“ notiert und vom ständigen Zweifel des Protagonisten an seiner Identität geprägt: Er ähnelte seinen Eltern nicht, und andere Kinder riefen Gerüchte hinter ihm her. Von seiner wahren Herkunft erfuhr er erst beim Tod seiner Ziehmutter. Warum er nicht früher gefragt habe? „Ich bin meiner Mutter dankbar, dass sie es mir nicht früher gesagt hat, ich hätte es nicht verkraftet“, sagt Romuald Jakub Weksler-Waszkinel, der Priester wurde, sich aber immer latent des Andersseins verdächtigt sah. Doch dazugehören konnte er auch in Israel nicht, wo er nach der Wende einen Onkel traf: Warum er in einem Land lebe, das die Juden so misshandelt habe, fragt ihn der Onkel vorwurfsvoll.
Vielschichtig ist auch der Fall Teodor Müllers, des deutschstämmigen Polen, der sich als loyaler polnischer Staatsbürger empfand, nie mit Deutschnationalen sympathisierte und trotzdem nach Kriegsausbruch vom polnischen Militär als vermeintlicher Kollaborateur verhaftet wurde. „Die damalige Macht hätte ganz sicher nicht irgendjemanden für irgendetwas ins Lager geschickt“, sagen die Nachbarn noch Jahrzehnte später. Und folgern, dass er schuldig gewesen sein muss. Sie blenden aus, dass Müller die polnische Untergrundbewegung unterstützte und sogar unter Folter keinen Namen verriet. Verhaltensfacetten, die den Nachbarn nicht denkbar schienen – und so zimmerten sie ihr eigenes Bild: Verräterisch fanden sie, dass er die Verfolgung überlebte. Denn sauber gesteppt muss das Feindbild sein, man muss purer Untergrundkämpfer oder purer Kollaborateur gewesen sein – Anforderungen, die wohl keiner der so forsch Urteilenden je selbst erfüllte.
Doch nicht nur auf polnisch-deutsches Grenzterritorium erstreckt sich solche Stereotypen-Sucht: Auch in Israel fühlt sich Zoja Perelmuter, 1968 auf Grund antijüdischer Stimmungen aus Polen ausgewandert, nicht zu Hause: Von neuem ertönt dort die Forderung nach Identitäts-Begradigung, weil auch die Protagonisten der neuen Heimat Ambivalenz nicht hinnehmen wollen: Sie soll kein Polnisch mehr sprechen, verlangt die neue Umgebung. Und warum erwartet andererseits ihre Besucherin aus Polen, sie als hundertprozentige Israelin vorzufinden?
Beispiele, die für etliche komplizierte Geschichten stehen – wobei aus den hier porträtierten Charakteren natürlich keine Edelmenschen wurden. Eine Spur mehr Differenzierung gelingt einigen von ihnen aber doch: Aus dem Wilna der dreißiger Jahre stammt Stanislaw Lagun, der von den Sowjets zur Zwangsarbeit verurteilt wurde, weil sein Vater – ein Kaufmann – als „Volksfeind“ galt.
Doch Lagun konnte flüchten und fand bei einem deutschen Handwerker in Wilna Arbeit. „Es gab auch gute Deutsche“, sagt er zig Jahre später trotzig – obwohl er Grund hätte, anders zu reden: Geschlagen wurde er von deutschen Soldaten – und entwickelte trotzdem Mitleid mit seinem deutschen Arbeitgeber, als der seinen Sohn im Krieg verlor. Und er baute nach dem Krieg eine deutsche Schule in Szczecin (Stettin) mit auf, weil er sah, dass diese Kinder für sein Leid nicht verantwortlich waren. Der Titel der Geschichte: „Anwalt der Entrechteten.“Petra Schellen
Helga Hirsch: Ich habe keine Schuhe nicht. Hamburg: Verlag Hoffmann und Campe 2002; 208 S., 17,90 EuroLesung Donnerstag, 11. April, 19 Uhr, Drahtstiftefabrik/Stadtteilarchiv Ottensen, Zeißstraße 28
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