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Wunder geschehen

Wie viel Erinnerung kann ein Mensch verkraften? In Berlin lagen sich bei Nena ganze Freundinnenverbände in den Armen. Fast wollte man mittun

Ich geh mit dir, wohin du willst, auch bis ans Ende dieser Welt. Ach, der „Leuchtturm“!

von CHRISTIANE RÖSINGER

Nena hat wohl halb Berlin auf die Gästeliste gesetzt, lange Schlangen formieren sich am Eingang zur Arena, und so verbringen Presse und Gäste eine besinnliche Stunde unter freiem Himmel mit idyllischem Blick auf die Spree, während sich drinnen bereits zwei Vorbands abmühen und ortsunkundige Fans aus Potsdam-Mittelmark und Oberhavel verzweifelt nach Parkplätzen suchen.

Aber schließlich führt jede Schlange an ein Ende, und die erste halbe Stunde des Konzerts hat Nena sowieso nur Stücke ihres neuen Albums „Chokmah“ gespielt. Dies nicht live erlebt zu haben, lässt sich verschmerzen. Diaprojektoren werfen Bilder unseres schönen blauen Planeten auf die Leinwand, auf der Bühne fegt eine quirlige Frau in Schwarz über die Bühne, es ist Nena. „Schön, dass ihr da seid“, ruft sie, und: „Seid ihr gut drauf?“ Sie trägt schwarze Hosen im trendy Army-Jeans-Stil, den korrekten Nietengürtel, ein schwarzes Muscleshirt legt ihre ausdefinierten Oberarme frei. Sie sieht sehr gut aus.

Nena ist eines der wenigen Rolemodels für die singende Frau von 40 Jahren, schließlich gibt in Deutschland keine Sheryl Crow oder Madonna. Musikerinnen werden von der Musikindustrie und ihren Medienpartnern gemeinhin als leicht verderbliche Ware gehandelt, die sich nach Überschreiten des Girlie-Verfallsdatums, also spätestens im dritten Lebensjahrzehnt, höchstens noch im Chansonfach betätigen können. Einzige Ausnahme: Nena. Nena macht einfach weiter. „Carpe Diem“ heißt die Single ihrer letzten Platte, „Carpe Diem“, singen 5.000 Berliner und Angereiste und dass man frei ist, wenn man frei sein will.

Viele Familien stehen beisammen, die autonomen Jüngeren können Nena eigentlich nur noch von der Plattensammlung der Eltern kennen. Wer 1982 schon jugendlich war, schwelgt in Erinnerungen. Erinnerungen an ferne Zeiten, als in den fortschrittlichen Dorfdiscos schon das musikgeschichtlich eindeutig wertvollere „Tanz den Mussolini“ lief, man aber insgeheim auf Nenas „Nur geträumt“ wartete, weil das dann doch mehr Pop-Appeal hatte. Was damals aber leider noch keine Kategorie war. So musste die Liebe zu Nena vor der strengen männlichen Musikhörerschaft geheim gehalten werden und konnte nur in der ironischen Brechung ausgelebt werden. In Wirklichkeit waren aber alle Nena-Fans.

Sie war einfach toll, nie so spießig wie die anderen Stars, durch ihre freundliche Schnoddrigkeit wirkte sie in der blödesten Fernsehshow noch selbstbestimmt. Ihre leicht angekratzte Stimme klang irgendwie aufrührerisch und selbst in den schmachtenden Passagen nach echter Sehnsucht, nicht nach dem üblichen systembestätigend-unterwürfigen Liebesgesäusel deutscher Sängerinnen. „Es ist ein Wunder, dass ich immer noch hier stehe und dass ihr immer noch kommt“, sagt Nena einen mittelalten Hit an: „Wunder geschehn“. Das löst mittleren Feuerzeugalarm aus. „Wunder geschehn, ich hab’s gesehn“, singen die ersten Reihen, Nena animiert den Rest zum Mitsingen und versteckt, als es klappt, das Gesicht in freudiger Ergriffenheit hinter den Händen.

Dann kommt wieder etwas Flottes, Neues, was keiner kennt, und die Masse beruhigt sich. Etwas zu sehr biedert sie sich dem Publikum an, mit dem „Na na na“-Gesinge, den endlosen Call-und-Response-Spielereien. Immer wieder wird das Mikrofon in die Menge gehalten, das ist natürlich nicht wirklich cool.

Nach über einer Stunde Material aus der letzten Schaffensphase wird es endlich Zeit für die alten Hits. „Ich geh mit dir, wohin du willst, auch bis ans Ende dieser Welt.“ Ach, der „Leuchtturm“! Da fassen auch die älteren Herren beherzt ihre Bierbecher und bewegen sich behände weg vom Tresen, hin zur Bühne. Und dann: „Heut komm ich“, der Klassiker mit den wunderbar rätselhaften Zeilen „Dein Auto fährt so schnell, weil du auf der Reise bist“, die im Refrain in die Heilserwartung „Heut brauch ich Liebe, die endlos ist“ münden!

Ganze Freudinnenverbände liegen sich da singend in den Armen, fast will man mittun, doch „Nur geträumt“ folgt auf den Fuß. Wie viel Erinnerung kann ein Mensch verkraften? Was für ein Lied: zuerst die Verweigerung des tätigen Lebensideals: „Ich hab heute nichts versäumt, denn ich hab nur von dir geträumt“, dann die Auflösung zum Refrain in einer bis dahin ungehörten angriffslustigen sexuellen Verspieltheit : „Ich werd verrückt, wenn’s heut passiert!“ Ein Mantra in den Zeiten der großen Erwartungen, der Irrungen und Wirrungen, ein zarter Leitfaden für die frühen Versuche mit der hedonistischen Lebensweise.

„99 Luftballons“ muss sie natürlich auch noch singen, das leicht durchgeknallte „Ganz oben, wo die Geister toben“ und zum Schluss „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ im Original und in der Jan-Delay-Version.

Nach fast drei Stunden Nena ist man glücklich und weich gekocht und findet alles gut: Nena war immer großartig und ist immer noch schwer in Ordnung, und das Stirnband, die Kinderplatten, die Wendung zur Esoterik – alles ist verziehen.

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