: Coole Ärsche
Wohlstands-verwahrlosung. Jugendliche im Hamburger Westen zwischen materiellem Reichtum und emotionaler Armut ■ Von Peter Brandhorst
„Meistens“, sagt Roman, „fehlt mir einfach Zeit.“
Nach der Schule in den Tennisclub, alle paar Tage zum Golf, „und dann die ganzen Nachhilfestunden“. Roman ist 16 und im vergangenen Schuljahr sitzen geblieben, zehnte Klasse an einem Gymnasium in den Hamburger Elbvororten. „Lauter Fünfen“, und fast erzählt er mit Erleichterung davon, denn „mit den Leuten in der alten Klasse konnte ich überhaupt nichts anfangen. Die haben sich immer nur zu zweit getroffen.“ Roman blieb lange allein.
Jetzt sitzt er neben ein Jahr jüngeren Klassenkollegen, „und mit einigen kann ich auch reden, manchmal unternehme ich mit denen sogar etwas“. Irgendwann nächsten Monat, „wenn meine Eltern nicht da sind“, sagt Roman, „dann lade ich bei mir mal richtig zur Party ein“. Bestimmt 30 Leute, oder noch mehr, Getränke für alle, und einen DJ besorgt er auch. „Natürlich nur einen richtig guten DJ“, sagt Roman. „Die Probleme des Lebens haben hauptsächlich mit Geld zu tun“, umschreibt der 16-Jährige seine Erkenntnisse. Und fügt hinzu: „Solche Einladungen sind kein Problem für mich.“
„Freunde“, sagt später der ein Jahr ältere Mirko, „hat Roman eigentlich noch nie gehabt. Die hier am allermeisten Geld besitzen, die haben die größten Probleme. Sie wollen sich ihre Freundschaften immer erkaufen, weil sie den Konsum gewöhnt sind.“ Mirko hat sich zu Hause gerade mit seinem Vater verkracht. „Beruf und Geld sind seine Prioritäten“, beklagt der blonde Junge, „ich sehe das anders. Deshalb ist unser Familienleben nicht mehr so, wie es sein sollte.“
Kinder des Wohlstands, Kinder einer Welt,
die keine materielle Knappheit kennt und in der vor allem die Außenwirkung zählt. Einer Welt, in der unbegrenzter Konsum Macht symbolisiert und manchmal doch nicht mehr ist als nur Entlastung für das Gefühl, nicht anerkannt zu sein – manch konsumverwöhntes Kind erlernt das Leben im Wechsel sich stets reibender Stimmungen. Heute noch der Rausch, alles sofort erkaufen zu können. Und oft morgen schon erneut das Gefühl, hilflos und überfordert zu sein, wenn Beziehungen auch erarbeitet werden müssen. „Für Freundschaften“, sagt Mirko, „muss man viel Zeit haben. Man muss sich einfach nur unterhalten können.“
Abends so ab acht, sagt Roman, das Einzelkind, sind die Eltern zu Hause. Sitzen rum und lesen, sagt Roman, den ganzen Abend. Beide sind berufstätig, dem Vater gehört eine Firma, und im Sommer spielt er gerne Golf. Irgendwann haben sich die Eltern noch ein paar Mietshäuser gekauft. „Zusätzliche Gewinneinnahmen, wenn sie mal alt sind“, sagt Roman, „das läuft wunderbar, die Häuser sind bald abbezahlt.“ Manchmal spricht Roman mit seinem Vater, über Geld und Geschäfte. Mit der Börse ist das ja gar nicht so schwierig, weiß er, „zum Beispiel: Wenn ein Anschlag auf das Weiße Haus passierte, dann würde ich einen Tag abwarten und dann in-vestieren. Ein paar Tage später würde ich wieder verkaufen.“ Nach dem 11. September hat der Vater mit dem Sohn Geld angelegt. Nur ein paar Tausender, die Gelegenheit mal ausprobieren, sagt Roman, „Versicherungen müssten jetzt eigentlich steigen“.
Doch, sagt Roman, alles okay Zuhause, im Großen und Ganzen. Auch die Zuneigung der Eltern sei spürbar, „sie überlassen mir Aufgaben im Haushalt, und ich kriege dann Geld dafür“. Ich kann sowieso sagen, was ich kaufen will, ich kriege immer Geld für alles. „Von meinen Eltern verwöhnt bin ich aber nicht“, sagt Roman, in keiner Weise, und eigentlich ist unser Verhältnis auch immer wieder belastet, sie reden ja nie viel mit mir, drohen nur, und ich kann doch schon lange selbst entscheiden, was ich will. „Aber ich bekomme sehr viel Taschengeld.“
900 Einkommens- und fast 7000 Vermögensmillionäre sind
bei Hamburgs Finanzämtern gemeldet; die meisten von ihnen residieren in den Villenvierteln entlang der Elbchaussee. Othmarschen, Nienstedten oder Blankenese – Tradition und Eleganz, oft versteckt in Parkanlagen und manchmal wie auf Perlenketten gezogen. Vor allem Angehörige freier Berufe wohnen hier, Ärzte und Anwälte, Kaufleute oder Wirtschaftsprüfer. 0,7 Prozent der Bevölkerung Othmarschens leben von Sozialhilfe, gegenüber 7,4 Prozent in der gesamten Stadt. Und während 1995 das steuerpflichtige Gesamthamburger Jahreseinkommen im Schnitt bei etwas mehr als 65.000 Mark lag, stieg es in Othmarschen auf 160.000 Mark, offiziell. Hamburgs Elbvororte gelten als Synonym für eine konfliktfrei heile und vorbildlich erfolgreiche Welt.
„Die Problemlage an den Gymnasien der Elbvororte ist so massiv, wie ich das nicht für möglich gehalten hätte“, sagt Wolfgang von Oppenkowski. Seit Herbst 2000 ist er Leiter der „Rebus“-Dienststelle West, einer Beratungs- und Unterstützungseinrichtung der Hamburger Schulbehörde, in der Psychologen und Sozialpädagogen Anlaufpunkt für verhaltensauffällige Schüler sowie deren Eltern und Lehrer sind. Ursprünglich hatte man die sozialen Brennpunkte, die Hochhaussiedlungen Osdorfer Born oder Lurup, im Blick. „Aber rund 10 Prozent unserer Arbeit“, sagt Oppenkowski, „beschäftigen wir uns mit den Wohlstandskindern aus den Elbvororten.“ Bei vielen habe starker Leidens- und Leistungsdruck zu neurotischen Verhaltensweisen geführt, der regelmäßige Gebrauch von Alkohol und Marihuana sei weit verbreitet, körperliche Gewalt habe massiv zugenommen. „Eine deutliche Form von Verrohung“, beobachtet Oppenkowski, „emotionale Verwahrlosung.“
Die einen tragen Schlabberhosen und Caps, hören Hiphop
und präsentieren sich gerne in der Öffentlichkeit. „Poser“ werden sie deshalb von den anderen gerufen, oder auch „coole Ärsche“. Die anderen: Junge Leute, tatsächlich Jungs vor allem, die nach dem Golfunterricht zunächst ihren Spaß ausleben beim Shopping in Boutiquen. Nach feiner Kleidung wird gesucht, nach Jacken mit hochklappbaren Kragen oder Shirts der teuersten Marken. „Scheiß-Polos“, brüllen ihnen die Poser hinterher, „arrogante Zicker.“ Das öffentliche Bild der Blankeneser Jugendszene wird vor allem von diesen Gruppierungen geprägt.
Ein Bild, das seit wenigen Jahren den Blick ermöglicht auf Bereiche des Lebens, von denen manch Blankeneser zuvor vermutete, es möge sie irgendwo in entfernten Ecken geben – in Osdorf oder Altona etwa. Randaliert wird jedoch auch, immer mal wieder, im feinen Blankenese, Mülleimer werden nächtens zertreten und Graffiti an Kirchenmauern gesprüht. Vor allem die jungen Poser „haben schwer exzessiv mit Alkohol zu tun“, sagt Klaus Georg Poehls, Pastor der Blankeneser Kirchengemeinde und seit fast zehn Jahren regelmäßiger Begleiter der Konfirmandengruppen. Manch 13-Jähriger weiß Cannabis nicht nur zu buchstabieren. In wärmeren Nächten treffen sich große Gruppen in öffentlichen Parks oder an nahen Elbstränden. „Und hinterher sieht es dann dort auch so aus“, sagt Pastor Poehls. Vor anderthalb Jahren hat seine Kirchengemeinde den offenen Jugendclub geschlossen, weil man nicht weiter die Verantwortung tragen mochte.
Mangelnde soziale Kompetenz bescheinigt Poehls den Auffälligen.
Sie seien nicht in der Lage, selbst Verantwortung zu übernehmen, weder für sich noch für andere. Bedient mich, versorgt uns, sei ihre vorherrschende Haltung, oder lasst mich gefälligst in Ruhe. Jugendliche, sagt der Pastor, fallen in diesem Lebensabschnitt immer mal hin. Um wieder aufstehen zu können, benötigten sie ein Gerüst an Regeln, schlüssige Antworten zum Beispiel auf Fragen nach Werten. „Vielleicht“, so Poehls, „spielt das Elternhaus hier nicht die Rolle, die es spielen sollte.“
„Solche Kinder verfügen nur über ungenügende familiäre Bindungserfahrungen“, sagt Professor Michael Schulte-Markwort, stellvertretender Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Schulte-Markwort spricht von „emotionaler Misshandlung“, wenn ein Kind zwar materiell gut ausgestattet sei, aber keinen ausreichend stabilen emotionalen Rahmen geboten bekomme. Oft äußere sich das in einer Störung des Sozialverhaltens – Regeln werden bewusst verletzt, Aggressionen besonders heftig ausgelebt. Diese Menschen könnten keine adäquate Beziehungen aufnehmen. Ihr Leiden hat einen Namen: Wohlstandsverwahrlosung.
Roman, der 16-Jährige, zählt auf: Die Discotheken,
in denen er schon mal war, die Türsteher und DJs, die er dort kennt, „alles meine Freunde“. Viele Freunde habe er da, sagt Roman, 20 oder 22 seien die schon, „und manchmal lasse ich mich auf die Gästeliste setzen. Dann gehe ich erst einmal an die Bar und gebe dem Barkeeper die Hand“, erzählt er stolz, „und danach kriege ich Freigetränke.“ Das spart auch Geld, sagt Roman. Emotionen werden gesucht, aber nur materialisierte Bezüge gefunden. Menschliche Kontakte dienen so vor allem als Mittel zum Zweck. Macht und Egoismus heißen die erlernten Werte.
Viele Eltern reagieren hilflos, oft fehlt Verständnis für das Kind und Einsicht in die eigene Verantwortung. Schlimm, wenn schon unsere Kinder Alkohol trinken, heißt es dann in den Elbvororten, aber das ist alles nur Schuld und Versagen der Schulen. Öffentliche Hilfen werden kaum in Anspruch genommen, so fällt das Problem anderen vielleicht erst gar nicht auf. Man verfügt zudem über Geld, um Therapeuten oder Erziehungshilfen privat zu bezahlen. Genügend Geld, von dem auch Internate gut leben. Wenn manchmal doch Kontakt gesucht wird zu staatlichen Hilfeeinrichtungen, „dann bemerken wir immer ein Multipaket an familiären Problemlagen“, sagt Christiane Geng, Jugendhilfe- und Sozialplanerin im zuständigen Bezirksamt Altona. Zu erkennen sei dann „die Spitze eines großen Eisbergs“.
In Blankenese hat der Kirchenvorstand jetzt beschlossen, die gezielte Arbeit mit Jugendlichen mittels eines veränderten Konzepts zum Schwerpunkt kirchlicher Aktivitäten zu machen. Man werde „da richtig massiv reinbuttern“, sagt der Pastor. Und auch auf bezirklicher Ebene wurde eine solche Dringlichkeit inzwischen erkannt. So ist kürzlich die Stadtteilkonferenz Elbvororte eingerichtet worden, ein breit gefächerter Zusammenschluss von Experten, wie er gewöhnlich nur in Stadtteilen mit sozialer Randlage Vorschläge zur Lösung drängender Probleme erarbeitet.
Roman denkt, „eigentlich sind wir selbst das Problem. Wir können nichts mit uns anfangen“. Ganz sicher, so hofft der 16-Jährige, wird für ihn in diesem Jahr alles besser. Denn mit den Leuten in der neuen Klasse „pflege ich gerne den Umgang“. Und die Party demnächst, bestimmt wird die ein voller Erfolg.
Und später? Sein Vater will, dass er irgendwann als Arzt arbeitet,
„da ist er ganz streng mit mir“. Das mit der Schule muss also werden, sagt Roman, und neulich haben seine Eltern auch schon mal mit dem neuen Klassenlehrer telefoniert. Von seinen Leistungen im Vorjahr bekamen sie überhaupt nichts mit, selbst zum Elternabend ging niemand. „Weil“, sagt Roman, „an dem Tag waren sie schon anders verabredet.“
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