Deus ex Lufthansa

Andrea Breth hat in Wien das Flughafendrama „Letzter Aufruf“ von Albert Ostermaier als ein Tableau aus unscharfen Individuen inszeniert

Achten Sie auf den Barkeeper! Irgendwann gibt sich der Lonesome Theken-Cowboy seinem Redefluss hin und erzählt von einem Film mit Menschen, „die sich immer wieder neue Identitäten erfinden“ und am Ende in einer Hotelbar zu einem „Kongress der Killer“ treffen. Eine szenische Fantasie an der Airportbar, wo all die seltsamen Wesen in Albert Ostermaiers „Letzter Aufruf“ wie Chimären der Nacht anlanden und sich den Anschein geben, als kämen sie gerade von einem Sondereinsatz im exterritorialem Raum. Dabei sind sie doch nur zu späte Traveller, die die letzte Maschine verpasst haben oder nie abreisen wollen.

Zurück geblieben sind: Leo Torn, der von allen Airports der Welt aus Börsengeschäfte abwickelt; seine Geliebte Tita, die mit Torn in ständigem Handy-Kontakt steht und scharf auf bizarre Arrangements in Airport-Hotels ist – bis hin zum Ritualmord; der Russe Serge, der angeblich seine junge Schwester sucht; der hippe DJ Mono und das Model Uma, das er schlecht behandelt, obwohl sie sein einziger Halt ist; da sind Stewardess Sona und Pilot Alan, die nicht wissen, in welchem Hotel sie beim nächsten Geschlechtsverkehr aufeinander treffen, und der angebliche Fotograf Richard, der wie der vermeintliche Dichter Ruiz Kontraktkiller auf den Spuren des nächsten Opfers sein könnte.

Ob diese Airportjunkies etwas in sich bergen, was dereinst „Identität“ genannt wurde, ist eine akademische Frage. Dazu hat Ostermaier seinen Patchworkern im Transitraum zu große Unschärfe eingeschrieben. Die interessantere Frage im Vorfeld der Uraufführung von „Letzter Aufruf“ lautete daher, was wohl geschehen würde, wenn der neue Ostermaier-Text auf Andrea Breth trifft. Zur Erinnerung: Breth ist Regisseurin der klassischen Moderne von Tschechow bis Horváth und hatte zeitgenössische Bühnenautoren bisher nicht im Blick. Die Uraufführung von „Letzter Aufruf“ war schon deshalb pikant – und nirgendwo besser aufgehoben als in Wien, im Arsenal des Burgtheaters.

Das liegt außerhalb des Stadtrings und ist eigentlich Probebühne, fungiert seit neuestem aber als riesige Flughafenhalle. Andrea Breth hat sich von Martin Zehetgruber ein Terminal in Form eines Rundumspielorts bauen lassen. Die Zuschauer sitzen im inneren Kreis und drehen sich auf Drehstühlen dorthin, wo sich im äußeren Rund ein Gateway öffnen und die Stimme eines Ostermaier-Wesens über Microport ertönen könnte. Es käme wohl eine ganz eigene Inszenierung heraus, würden Kameras die sich drehenden Zuschauer und entstehenden Drehkontakte einfangen.

Der Effekt ist aber auch so frappierend. Während sich im inneren Rund die Zuschauer als rezipierende Individuen voneinander abzugrenzen suchen, akzentuiert Andrea Breth im äußeren Spielrund entschieden die Unschärfe der Ostermaier-Wesen, lässt sie fast vollständig im aseptischen Airport aufgehen und wie unterschiedlich aufgeheizte Emotionsteilchen fluktuieren. Es kommt zu Gruppenchoreografien in Slowmotion und kurzen Episoden an der Bar, auf den Airporttoiletten, am Gepäckband und zwischen zwei Rolltreppen. Einzelne Akteure sagen ihre Dialogpassagen vor sich hin, und die Replik kommt dann von weit her aus einer anderen Ecke des Runds. Im Reigen dieser Widergänger sind Reste von Selbststilisierungen zu erkennen. Andrea Clausen etwa ist als Tita ein schwarzer Engel der Lüfte; Johannes Krisch gewinnt als kokainschlüpfriger DJ scharfe Konturen; Wolfgang Michael macht aus einem Monolog des Serge, in dem Ostermaier ein nostalgisches Lob der Heimat singt, ein wundersam schwüles Geraune; und Peter Simonischek ist als Torn ein verblühter Womanizer der balkanischen Art.

Das sind aber lediglich Ansätze von Individuation, da Ostermaier keinen Theatertext, sondern ein poetisches Figuren-Sampling geschrieben hat. Andrea Breth entwickelte zusammen mit Ostermaier eine ganz eigene Spielfassung, die beim Lesen wirkt, als sei der Text in Richtung Eindeutigkeit zugespitzt worden. Inszenierend hat sich Breth allerdings in eine andere Richtung bewegt, erzählt keine zusammenhängenden Geschichten, sondern setzt voll auf Ostermaiers Sprache. Das Ergebnis ist eine Art lyrischer Antikrimi mit einer virtuellen Leiche gegen Ende: Stewardess Sona liegt „wie ein arrangiertes Kunstwerk“ von einer gemeinen Kugel niedergestreckt in einem der Parkdecks.

Andrea Breth verlagert das Bild in eine Hoteldusche, als hätten Torn und Tita die arme Sona in ihr letztes Sado-Spielchen eingebaut. Am Ende erscheint auch noch ein Filmproduzent. Er heißt Claudio Dieu, ist eine weitere Virtualitätsschleife aus dem Hause Ostermaier und beschert den Wienern einen Deus ex Lufthansa – draußen im Arsenal, gleich hinter dem Heeresgeschichtlichen Museum, wo der Rasen so saftig grün und die imposanten Backsteingebäude so rötlich sind. JÜRGEN BERGER