Das Ungenügen an der Welt

Einst praktizierte er Intimperformances mit Kamera, heutzutage steigt er in den fahlblauen Kofferschacht des Köln-Bonner Flughafens: Groß angelegte, hoch konzentrierte Jürgen-Klauke-Retrospektive in der Hamburger Galerie der Gegenwart

Von HAJO SCHIFF

Kunst kann ganz direkt wirken: In seiner wilden Zeit lief der Kölner Künstler Jürgen Klauke derartig pfauenmäßig aufgebrezelt in rotem Lackleder herum, dass ein Autofahrer, der seinen Blick nicht von ihm wenden konnte, geradewegs gegen einen Baum fuhr.

Mit sichtlichem Vergnügen erinnert sich der Performance-, Foto- und Lebenskünstler nach über dreißig Jahren an eine Epoche, die auch sonst für die Kunst unwiederbringlich kreativ war. Nun ist der 1943 in einem kleinen katholischen Winzerdorf Geborene seit seinem 50. Geburtstag Professor an der Kölner Kunsthochschule für Medien und kann in aller Ruhe seine retrospektiv angelegte Ausstellung von Fotoarbeiten in der Hamburger Kunsthalle kommentieren.

Die zuerst in der ,,Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn gezeigte Schau wurde für die Galerie der Gegenwart neu eingerichtet. Sie beginnt mit den Rollenspielen des sich androgyn gebenden Künstlers. In dieser mit dem Lou Reed Zitat ,,Transformer“ bezeichneten Phase versuchte Klauke das existenzielle Ungenügen an der Welt mittels seines eigenen Körpers zu kompensieren und in Intimperformances, deren einziger Zeuge die Kamera war, sein Selbst auf das Andere auszudehnen. Sexuell obsessiv, in barocker Üppigkeit bis hin zu Todesallegorien, wird vorgeführt, dass in jedem ein Anarchist und ein Priester, ein Beamter und ein Mörder steckt. Was damals durchaus als Provokation wirkte, ist stets durchdrungen von feiner Ironie, wie Bildtitel wie Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse deutlich zeigen.

Nach zehn Jahren nicht nur virtueller Exzesse wandte sich Klauke dann dem genauen Gegenteil zu: In den Achtzigern entstand die große Werkgruppe Formalisierung der Langeweile. In der Kunsthalle sind 13 große, ruhige Schwarzweiß-Tableaus zu dem Thema zu sehen. Es ist ein großes schwarzes Theater, in dem die Person im trägen Umgang mit trivialen Dingen fühlbar die Zeit dehnt und für ihre Sonntagsneurosen genannten Defizite einsteht.

Ende der Achtziger Jahre trug Klauke seine Welterforschung ins Innerste und fertigte nachts unter Polizeibeobachtung auf dem Köln-Bonner Flughafen mit den offiziellen Durchleuchtungsapparaten für Reisekoffer seine Reihe Prosecuritas. Die äußere Form fällt von den Dingen ab, und fahlblau scheinen die Strukturen der Objekte auf. Technisch bedingt nur zusammengekauert, begibt sich auch der Künstler selbst in den Apparat und wird Teil einer zwar mittels einer rationalen Maschine gewonnenen, trotzdem aber geisterhaften Zwischenwelt.

In den neuesten Arbeiten scheint es darum zu gehen, Bildformeln für eine mögliche Balance zwischen den Menschen und den Dingen zu finden: In feierlich eingefrorenen Posen werden unter Titeln wie Annäherungsakrobatik oder Zweisamkeitsimaginierung Beziehungsmodelle inszeniert. Als boshafte Reverenz gegenüber dem Kölner Professorenkollegen O. M. Ungers, der Deutschland mit seinen quadratversessenen Museumsbauten vollstellt, hat Klauke mit 16 den Fenstern angepassten Großfotos den Lichthof der Galerie der Gegenwart in einen ironisch Patio Dr. Ungers titulierten Raum voller schwer erkennbarer und kaum leichter deutbarer allegorischer Verrücktheiten verwandelt. Hier schwebt der Künstler nicht nur innerhalb seiner Fotoinszenierungen, hier hat er sich unter Nutzung der architektonischen Pathosformeln gleich ganz in eine moderne Ruhmeshalle entrückt.

,Jürgen Klauke. Das photographische Werk, Galerie der Gegenwart, Hamburger Kunsthalle; bis 4. August. Katalog: 358 Seiten, 50 Euro. Eigens eingerichtete, empfehlenswerte und speziell von ,,MSBK proximity“ gesponserte Internetseite: www.klauke-in-hamburg.de