: Rätsel um Plutonium-Fund
Wohngebiete um Geesthacht und Hanau radioaktiv belastet. Gutachter nennen atomare Unfälle in den 80er-Jahren als Ursache
BERLIN taz ■ Neue Belege für einen angeblichen Atomunfall in der nuklearen Forschungsanlage Geesthacht haben gestern die „Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) vorgelegt. Demnach soll am 12. September 1986 – fünf Monate nach der Katastrophe von Tschernobyl – atomarer Brennstoff nach Experimenten ausgetreten und in der Elbmarsch südöstlich von Hamburg verbreitet worden sein. Das Material sei verantwortlich für die außergewöhnlich häufigen Leukämiefälle in der Gegend und habe sich in Form von Kügelchen mit maximal einem Millimeter Durchmesser in der Erde und auf Dächern abgelagert.
Wie gestern unter anderem durch Recherchen des ARD-Magazins „Report“ bekannt wurde, ermittelt die Staatsanwaltschaft in Hanau in derselben Sache. Im Boden um die dortigen Atombetriebe, unter anderem die ehemalige Nukem, sind ebenfalls die geheimnisvollen Kügelchen gefunden worden. Die von ihnen ausgehende Strahlung hat die Staatsanwälte bewogen, wegen Bodenverunreinigung zu ermitteln. Als Ursache der Kontamination kommt auch in Hanau nur ein Unfall in Betracht, der sich möglicherweise im Januar 1987 ereignet hat. Nukem stellte damals den so genannten PAC-Brennstoff (Plutonium-Americum-Curium) her, dessen Nachfolgeprodukte sich angeblich in den Kügelchen finden.
Die Indizienkette und damit letztlich auch die Ermittlungen gehen auf Untersuchungen der „Arbeitsgemeinschaft Physikalische Analytik und Messtechnik“ (ARGE PhAM) in Gießen zurück. Deren Leiter, Heinz Werner Gabriel, bezeichnet sich selbst als ausdrücklichen „Befürworter der Kernenergie“. In der Vergangenheit arbeitete er häufig für die Atomindustrie. Die IPPNW haben ihn mit dem Gutachten beauftragt. Gabriel bezeichnet seine Thesen als nur „ein Modell für die Erklärung“ der Leukämiefälle in der Elbmarsch, hält es aber für das belastbarste.
Bei den zuständigen Behörden sieht das ganz anders aus. Im Kieler Energieministerium wird bezweifelt, dass es die Kügelchen überhaupt gibt. Das sei nicht erwiesen, erklärt Herbert Schnelle, Sprecher von Energieminister Claus Möller (SPD). „Alte Hüte“, fügt er hinzu: Gutachter Gabriel habe seine wilde Theorie bereits vor einem Jahr aufgestellt. Danach seien sämtliche offiziellen Stellen – vom Bundesamt für Strahlenschutz über das Niedersächsische Landesamt für Ökologie bis zur Forschungsanlage Jülich – auf die Suche nach den Kügelchen gegangen, ohne sie zu finden, erläutert auch Martin Waldhausen, Sprecher von Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne).
Klärung könnten nicht nur die Ermittlungen in Hanau bringen. Vor Monaten haben schleswig-holsteinische Staatsanwälte Erdproben Gabriels beschlagnahmt, um sie mal ganz offiziell zu untersuchen. HANNES KOCH
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