Latente Deutungssucht

Von der unbegreiflichen Diskrepanz zwischen Fassade und Interieur: Die Ausstellung „Andere Räume“ im Kunstverein verführt immer wieder zur sinnlosen Suche nach Zusammenhängen

von PETRA SCHELLEN

Realität hat kein Gesetz. Sie passiert beliebig, auch wenn sich mensch noch so müht, Struktur hineinzuladen. Wo sie passiert: In Räumen – aus Materie oder Gedanken –, die als normal oder abweichend definiert werden. Andere Räume hat der Kunstverein daher seine aktuelle Schau im Rahmen der Triennale der Photographie genannt und Werke von zehn internationalen Künstlern zusammengetragen. Auf abweichende Verhaltensnormen in Minderheits-Räumen wie Gay-Bars, Tatorten und Museen soll die Schau verweisen. Dekontextualisieren wollen die Kuratoren – und beunruhigen.

Doch gerade weil die Ausstellung darin so inkonsequent ist, leistet sie viel mehr: Denn durch die Mischung aus kommentierten und unkommentierten Werken lässt sie ahnen, was jenseits dieser Präsentationsform noch möglich wäre: die Befreiung auch der Fotografen und Kuratoren vom Zwang zur Hintergrundinformation. Denn dies böte dem Publikum die echte Chance, neuen Kontext herzustellen.

Warum zum Beispiel muss der Betrachter erfahren, dass Natalie Czechs – gekonnt surreal abgelichtete – Räume dem Dorf Garzweiler II entstammen, das dem Braunkohletagebau weichen musste? Mitleid empfindet man beim Anblick einer Neuschwanstein-Tapete, wenn man weiß, dass dieser Tagtraum profaner Profitsucht weichen musste. Eindrucksvolle politische Bekenntnisse sind diese Fotos – und doch schaffen sie den Sprung in die Dekontextualisierung nicht, da ein Hauch von Anklage übrig bleibt.

Kälter ist Gregor Schneider mit der Situation umgegangen: Er hat in Giesenkirchen – einem ebenfalls durch Braunkohleabbau ausgelöschten Dorf – einen Ausnahmeraum konstruiert: Quälend langsam öffnet sich auf dieser Fotoserie, unglaublichst gepolstert, die Tür zu einem licht- und schallisolierten Zimmer. Den Eingang zu dem Raum-Ungetüm bildet eine kleinbürgerlich-adrette Haustür. Ein Ansatz, der die – für die Schau mottogebende – Diskrepanz von Fassade und Interieur offenbart. Nichtssagend sind auch die Außenmauern der von Dean Sameshima in Los Angeles abgelichteten Gay-Treffs; äußerlich verraten die Baracken nichts von ihrem Innenleben.

Mit der Sucht des Betrachters nach der Herstellung von Zusammenhängen spielt auch Peter Piller, der Tatort-Zeitungsfotos an eine Wand heftete: Schnell ertappt man sich bei der Suche nach Besonderheit auf den durchschnittlichen Bildern. Schon glaubt man in Details Hinweise aufs latente Böse zu finden. Der Wunsch, den Zufall aus der Realität herauszufiltern, spiegelt sich in solch indiziensüchtiger Fotoanalyse, die mit Sicherheit unterbliebe, fehlte einem die „Tatort“-Information.

Gelungen ist auch die Museums-Serie Sharon Lockharts, entstanden in Tokio während einer Schau des Konzeptkünstlers On Kawara. Die Fotos gleichen einander – fast: Ob die lang- oder die kurzhaarige Wärterin im Vorder- oder Hintergrund sitzt, macht letztlich keinen Unterschied. Und schon wieder fällt man auf das Manipulationsangebot herein, indem man das Spiel „Schau genau“ beginnt und akribisch nach Unterschieden forscht.

Angesichts solch subtiler Spiele mit der Ent-Konditionierung wirken Peter Dombrowes Aufnahmen fast schon platt pädagogisch, wenn sie medial erschaffenes Serien-Ambiente zeigen – aber immer so, dass die Fernsehmaschinerie sichtbar bleibt. Andererseits spiegeln diese Fotos genau das, was sich die ganze Zeit über im Betrachter abgespielt hat: den Wechsel zwischen Vertiefung ins Deutungs-Spiel und dem geläuterten Schritt zurück, mit dem man weise belächelt, was man gerade tat.

Andere Räume: Kunstverein, Klosterwall 23; Di–So 11–18, Do 11–21 Uhr; bis 16. Juni