piwik no script img

Das Versinken des Felsens

Einmal mehr scheitert Pete Sampras in der ersten Runde der French Open, diesmal gegen Andrea Gaudenzi. Doch seinen Versuch, endlich auf der roten Asche zu gewinnen, mag er nicht aufgeben

aus Paris DORIS HENKEL

Er weiß so gut, wie es sich anfühlt, ein großer Sieger zu sein. Dazustehen als Fels in der Brandung von Jubel und Begeisterung; mächtig, unverrückbar und stark. Er hat dieses Gefühl in den vergangenen zwölf Jahren so oft erlebt wie kein anderer in diesem Sport.

Er hat auch die Niederlagen hingenommen, die einen leichter, die anderen mit Mühe, aber nirgendwo hat er so oft so früh verloren wie auf dem roten Sand in Paris. Sein einziger nennenswerter Erfolg im Stade Roland Garros liegt sechs Jahre zurück, seitdem hat er insgesamt nur noch fünf Spiele gewonnen, und so war es keine allzu große Überraschung, als er Montagabend in der ersten Runde der French Open 2002 verlor. Nicht dass, sondern wie er verlor – das machte den Unterschied. Es war so, als versinke der Fels Pete Sampras bewegungslos in ruhiger, tiefgrauer See.

Dreimal war das Spiel gegen den Italiener Andrea Gaudenzi wegen Regens unterbrochen worden, das letzte Mal beim Stand von 3:3 im vierten Satz, als Sampras gerade wieder fünf Breakbälle vergeben hatte – fünf von insgesamt 17. Als der Regen nach rund einer Stunde aufgehört hatte und das Spiel bei lausiger Kälte gegen halb neun wieder begann, da saßen keine 500 Zuschauer mehr im großen Stadion Philippe Chatrier. In der trüben halben Stunde bis zum Ende sahen sie, dass er sich bewegte wie ein alter Mann, dass er einen mühsam erkämpften Vorsprung mit einem abenteuerlichen Schmetterball direkt am Netz wieder verspielte und dass am Ende alles, was er in seinem Frust probierte, irgendwie falsch war. Gaudenzi gewann den Tiebreak und das Spiel (3:6, 6:4, 6:2, 7:6); der Sieger ging, der Verlierer saß einen Augenblick auf seinem Stuhl, dann stand er auf, drehte sich im Gehen um und hob die Hand zum Abschied. Zum Abschied vor leeren Rängen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit.

Hinterher sagte er, er sei völlig hohl. Nach all der Arbeit, die er investiert habe, sei er bis zur Schmerzgrenze frustriert. Als er sich zu Beginn des Jahres nach nach nur wenigen Wochen der Zusammenarbeit von seinem neuen Trainer Tom Gullikson getrennt und den renommierten Spanier José Higueras verpflichtet hatte, war das als Hinweis darauf gewertet worden, dass er tatsächlich noch mal was vorhabe in Paris. Higueras hat mal Michael Chang betreut, auch Jim Courier, beide hatten Erfolg in Paris und waren eine Macht auf Sand.

Wochenlang hat Sampras in Europa gespielt; zuerst in Rom, wo er in der ersten Runde verlor, dann in Hamburg, wo er in der ersten Runde verlor, nun in Paris, wo … Nach dem letzten Eindruck ist es keine verwegene These, dass es wohl für ihn nichts mehr werden wird bei diesem Turnier, und das weiß er vermutlich auch selbst. Aber wie jedes Mal in den letzten drei, vier Jahren wartete man vergeblich auf den Satz: Macht keinen Sinn mehr; das war’s hier für mich. Wie jedes Mal sagte er: „Wenn ich das hier in Paris nie schaffen sollte, wird mein Leben trotzdem weitergehen. Aber ich werde wiederkommen und es noch mal versuchen.“

Soll er das wirklich tun? Der Preis, den er diesmal gezahlt hat, war hoch genug, aber es ist wohl ein Preis, den man zahlen muss. Der Schwede Mats Wilander, der dreimal den Titel in Paris gewonnen hat, aber im Gegensatz zu Sampras nie in Wimbledon, hat mal gesagt, er könne Spieler nicht verstehen, die daran dächten, ihre Karriere auf dem Höhepunkt oder bald danach zu beenden, um sich den Abstieg zu ersparen. Diesen Abstieg zu ertragen, so Wilander, sei eine Frage des Respekts vor dem Sport.

Ein höchst moralischer Standpunkt, aber selbst nach dieser strengen Definition kann niemand von Sampras verlangen, dass er nächstes Jahr wiederkommt. Die Rechnung ist beglichen, es sind keine Schulden offen; noch einen Abend in der Kälte von Paris hat er nicht verdient.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen