: Die Entstehung eines Feindbildes
Die europäischen Kolonialmächte importierten Antijudaismus in islamische Länder. Doch erst mit dem Palästinakonflikt und dem panarabischen Nationalismus entstand dort Antisemitismus nach europäischen Mustern
Bis zum Beginn des imperialen Zeitalters, das für die islamische Welt mit der Ägyptenexpedition Napoleons im Jahr 1798 begann, gab es in der islamischen Welt keinen Antijudaismus, der mit dem europäischen Antisemitismus vergleichbar gewesen wäre. In den islamischen Herrschaftsbereichen waren die Juden – so verlangt es unmissverständlich der Koran – als ahl al-kitab (Leute des Buches) anerkannt, das heißt, die islamischen Herrscher behandelten das Judentum und übrigens auch das Christentum als eine schützenswerte „Vorform“ des Islam. Für Juden und Christen gab es zwar einen Katalog von Auflagen (so war ihnen das Tragen von Waffen verboten, und sie mussten eine Art Sondersteuer entrichten). In der Regel jedoch konnten sie ihre Religion frei praktizieren und ihre familiären Angelegenheiten gemäß ihren religiösen Geboten handhaben.
Das überwiegend friedliche Zusammenleben zwischen Muslimen, Juden und Christen wurde erst durch den europäischen Kolonialismus massiv in Frage gestellt. Die sukzessive Zerstörung des friedlichen Miteinanders unterschiedlicher Religionen begann mit der folgenschweren Damaskusaffäre, die durch den antisemitischen französischen Konsul Ratti-Menton im Jahr 1840 in Damaskus ausgelöst wurde. Die Affäre, die sich zu einer internationalen Krise ausweitete, nahm ihren Anfang, als im Februar 1840 in Damaskus ein Kapuzinermönch spurlos verschwand. Die französische Botschaft behauptete, der Mönch sei das Opfer eines jüdischen Ritualmordes geworden, und verlangte beim Gouverneur die Verhaftung etlicher Juden. Daraufhin wurden zahlreiche Juden inhaftiert und gefoltert. Parallel zu den Verhaftungsaktionen lief in Frankreich eine breit angelegte antisemitische Hetzkampagne, die sich insbesondere gegen die Juden von Damaskus richtete. Erst eine diplomatische Intervention der Briten in Istanbul beendete das für islamische Verhältnisse ungewöhnliche Treiben in Damaskus.Der Antisemitismus war zunächst ein Phänomen, das sich hauptsächlich auf die christlichen Bevölkerungsteile beschränkte.
Zu einer dramatischen Verschlechterung im islamisch-jüdischen Verhältnis kam es erst im sich anbahnenden Palästinakonflikt in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts. Am 2. November 1917 verkündete der britische Außenminister Lord Balfour, dass die britische Regierung gewillt sei, eine nationale Heimstätte der Juden in Palästina zu schaffen. Die Araber in Palästina mussten nun deutlich erkennen, dass ihre von Frankreich und England während des Ersten Weltkriegs gehegten Hoffnungen auf Unabhängigkeit endgültig zerschlagen waren. Der bisher weitgehend friedliche Widerstand gegen die zionistische Siedlungspolitik schlug in eine Serie von gewalttätigen Erhebungen um und erhielt zunehmend eine antisemitische Dimension. In der palästinensischen Nationalbewegung verloren die gemäßigten Kräfte deutlich an Einfluss. Dominiert wurde die Bewegung jetzt vom Jerusalemer Mufti Amin al-Husaini. Dieser suchte ab 1937 eine intensive Zusammenarbeit mit dem NS-Regime. Der Mufti versuchte alles in seiner Macht Stehende, um die Auswanderung europäischer Juden zu verhindern.
Die Staatsgründung Israels 1948 wurde von den Arabern als Katastrophe und große Demütigung empfunden. Diese wurde noch verstärkt, als wenige Jahre später im Jahr 1956 der Hoffnungsträger der panarabischen Bewegung, Gamal Nasser, erneut eine schwere Niederlage gegen die israelische Armee hinnehmen musste. Die zweite Niederlage verlangte nach einer griffigen Erklärung, und diese bot der Antisemitismus mit seinen absurden Verschwörungstheorien. In den folgenden Jahren fabrizierten die Propagandisten im Auftrag der Regime eine ganze Flut antisemitischer Schriften. Das Grundlagenmaterial stammte meist aus europäischen Quellen. Das zentrale Bild, das im Mittelpunkt der Propaganda stand, war das des bösartigen jüdischen Verschwörers, der die Fäden der Weltpolitik zog.
Bis zum dritten arabisch-israelischen Krieg, der erneut mit einer Niederlage für die Araber endete, war der Antisemitismus hauptsächlich ein „Kampfmittel“ der panarabisch-nationalistisch gesinnten Parteien. Die dritte Niederlage gegen Israel und die ökonomische Krise in den frühen Siebzigerjahren führte zu einem weitgehenden Perspektivwandel: Die panarabisch-nationalistische Ideologie wurde mehr und mehr von einer islamistisch geprägten Weltsicht verdrängt. MICHAEL KIEFER
Der Autor ist Islamwissenschaftler. Vor zwei Monaten erschien sein Buch „Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästinakonflikt und der Transfer eines Feindbildes“. Verein zur Förderung gleichberechtigter Kommunikation, Düsseldorf 2002, 14,90 €
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