piwik no script img

Kremierung ohne Aufpreis

Die Welt, aus authentischer Ostsicht gesehen: 14 Tage „Neues Deutschland“ im Selbstversuch. Man erfährt, warum man sich bei Kapitalisten nicht auf freiwillige Selbstverpflichtungen verlassen kann und dass die Plünderer am 1. Mai Hungernde waren

Wer mit Marx auf die Geschichte als Genossen setzt, der ist völlig verloren

von ANSGAR WARNER

Berlin, Ende April 2002. Im Briefkasten ein Schreiben von Olaf Koppe, Vertriebsleiter des Neuen Deutschlands. „Wir freuen uns, dass sie unser kostenloses Probeabonnement nutzen wollen. Diese sozialistische Zeitung deckt die gesamte Themenpalette einer Qualitätszeitung ab“, lese ich. Das mag ja so sein, aber wieso ich? Dann fällt’s mir wieder ein: Neulich hat mir eine Promoterin unter blassgrünem Sonnenschirm das Blatt samt Probeabo irgendwie untergeschoben. Nun habe ich also dank dieser „linken Tageszeitung unter den Großen“ in der nächsten Zeit eine „besonders authentische Sicht auf die neuen Bundesländer“.

So ähnlich wie Herr K. aus dem Vorderhaus. Jeden Morgen sitzt er hinter der Fensterscheibe seiner Parterrewohnung am Schreibtisch und liest das ND. Alles wirkt äußerst authentisch. Was vielleicht auch daran liegen mag, dass Herr K. von Beruf Bühnenbildner ist. Wenn ich meine Schrippen vom Bäcker gegenüber hole, blickt er kurz auf und grüßt. Ich grüße zurück. Jetzt grüße ich zwar unauffällig wie immer, doch mit dem Wissen: Ich weiß, was du weißt. In der ersten Gratislieferung gibt’s eine Sozialreportage über Westberlin. Eine typische Kreuzberger Straßenszene: Ein paar schwarz gekleidete Jugendliche vor einer Döneria blicken mürrisch in die Kamera. Kommentar: Die „Kämpfer von damals haben sich arrangiert. Der Kampf Klasse gegen Klasse findet in der Oranienstraße nicht mehr statt.“ Der antikapitalistische Widerstand Westberlins ist erloschen, man lebt in der Nische: „In den hiesigen Parallelwelten gibt es für alle Platz.“ Doch die Berliner PDS-Abgeordnete Angela Marquardt kämpft weiter. Wie der Lokalteil berichtet, fordert sie den Innensenator in einem offenen Brief auf, die „revolutionäre 1.-Mai-Demo“ wie geplant vom Rosa-Luxemburg-Platz aus starten zu lassen: „Wir alle sind nicht an einer Eskalation interessiert …“

Das sieht Jürgen W. Möllemann offensichtlich etwas anders. In seiner (inzwischen aus den bekannten Gründen gestoppten) Gastkolumne agitiert er die „60 Prozent Nichtwähler in den neuen Ländern“: „Unser Angebot: Wir befreien die magere Gesellschaft vom fetten Staat.“

Kaum habe ich diese Zeilen goutiert, da klopft es an meiner Wohnungstür. Ein uraltes, gebücktes Mütterchen in blassgrüner Schürze bittet um eine Spende für die Volkssolidärität. Gerührt krame ich ein blitzblankes Zweieurostück aus der Hosentasche. Mit zahlreichen Segenswünschen trippelt die Dame davon. Erst jetzt meldet sich mein finanzielles Gewissen: „Zwei Euro sind vier Mark, du Dummkopf!“ Die magere Gesellschaft versorgt sich selbst. Nach den Maikrawallen zitiert ND das Szeneblatt Rote Fahne: „Die Supermarktplünderer vom Oranienplatz waren in Wirklichkeit Hungernde!“ Ein Leserbriefschreiber sieht in den Kreuzberger Nächten „beginnende Auflösungserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft“. Überall in Europa, so ergänzt ein Auslandskorrespondent, höre man das „Abschiedslied der sozialen Demokratien von ihren Entstehungsimpulsen“.

Kein Wunder, dass die ND-Leser auch den Erfurter Amoklauf dem neuen Deutschland in die Schuhe schieben: „Dieses bestialische Massaker wäre unter den damaligen Verhältnissen unmöglich gewesen.“ Richtig ist: In der DDR wurde vor allem trainiert. Der ND-Bücherservice bewirbt eine Publikation über die „Gesellschaft für Sport und Technik“, in der „Millionen begeisterter Mitglieder preisgünstig ihren Führerschein machen, segeln und fliegen lernen“ konnten. Freilich „geriet die GST auch als vormilitärische Ausbildungsstätte für Jugendliche in herbe Kritik“ …

Doch wir wollen in diesem Zusammenhang auch den „ökonomischen Totalitarismus“ der westlichen Gesellschaft nicht verschweigen. Der Philosoph Robert Kurz weist in einem ND-Gastbeitrag darauf hin, dass die Marktwirtschaft „Quellgrund einer globalen Vernichtungslogik“ ist. Sie weint „Krokodilstränen über ihre verlorenen Kinder“, die sie selbst zu „autistischen Monstern kapitalistischer Subjektivität“ erzogen hat. Objektivität haben dagegen die Leserbriefschreiber bewahrt. Ein „Single mit vorzüglichem Preisgedächtnis“ meldet dem ND: „Im Kaufland Erfurt gab’s eine köstliche Hausmacher-Leberwurst aus dem Harz, die Anfang 2001 pro Glas 1,89 DM, Ende 2001 2,69 DM kostete!“ Fazit für den thüringischen Wurstfreund: „Bei Kapitalisten kann man sich auf freiwillige Selbstverpflichtungen nicht verlassen!“

Natürlich ist es nicht überall so schlimm, dass man am liebsten ausrasten möchte. Im Friseursalon an der Bornholmer Straße habe ich mir zum Beispiel für acht Euro die Haare schneiden lassen. Danach sah ich, wie eine Freundin aus Charlottenburg meinte, sehr „authentisch“ aus. Überhaupt, bekam ich zu hören, würde ich in letzter Zeit eher „ostige“ Meinungen vertreten. Dabei hatte ich nur die Preissteigerungen seit der Euro-Einführung kritisiert. Was man sich nicht alles von Tagesspiegel-Abonnenten gefallen lassen muss. Ansonsten ist an diesen „warmfeuchten Maientagen“ zwischen Rügen und Suhl vor allem lautes Grunzen zu hören: „Uuh-uuh-uuh. Äpp-Äpp-Äpp.“ Die Froschbevölkerung wächst nämlich in den neuen Bundesländern mit hohem Tempo. Laut ND ein „spätes Lob für die DDR-Planwirtschaft“. Die hat nicht „bis in den letzten Winkel entwässert, kanalisiert, chemisiert“, sondern „mannigfache Refugien“ gelassen. Vielleicht abgesehen von unserem Innenhof. Der ist kurz vor der Wende nämlich komplett zubetoniert worden. Diese authentische Einsicht verdanke ich übrigens Herrn K. aus dem Vorderhaus. Ob ich einen Leserbrief schreiben soll!? Ach nein, die Ostfrösche haben es ja so leicht nun wiederum auch nicht.

Robert Menasse, einer der „provokativsten Intellektuellen Österreichs“, legt im ND-Interview den Finger in die Wunde: Wer wie Marx auf die Geschichte setzt und dabei auch noch glaubt, sie sei „unser Genosse“, der liegt völlig falsch. Denn leider ist „noch nie eine unterdrückte Klasse in der jeweils folgenden Ordnung zur herrschenden Klasse“ aufgestiegen. Mittlerweile werden diejenigen, welche eigentlich Totengräber des Kapitalismus sein wollten, selber zu Marktpreisen beerdigt. Fast jeden Tag finden sich im ND-Todesanzeigen verdienter Genossen. Ein Ostberliner Bestattungsunternehmer, der per Anzeige „Kremierung ohne Aufpreis“ verspricht, zeichnet mit „Ihr Genosse R.“.

Wie beruhigend, dass gleichzeitig der ND-Lokalteil meldet: „Ostberliner leben im Schnitt ein Jahr länger.“ Am niedrigsten ist die Lebenserwartung nämlich immer noch im Bezirk Kreuzberg. Berlin, Ende Mai 2002. Im Briefkasten wieder ein Schreiben von ND-Vertriebsleiter Olaf Koppe: „Wir hoffen, dass Sie an den interessanten Berichten, Standpunkten und Betrachtungen, die nur in dieser Zeitung den Weg an die Öffentlichkeit finden, Gefallen gefunden haben.“ Kann man wohl sagen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen