: Wahrheit-Bücherfrühling
Die mit dem Klappspaten herausgebaggerten Highlights verlangter Manuskripte
Wir hätten es ahnen können. Doch jetzt ist alles zu spät. Zum Weltbuchtag hatten wir die Wahrheit-Leser leichtsinnigerweise dazu aufgerufen, Manuskripte einzusenden und dafür betont unsachliche Kurzrezensionen versprochen. Seitdem kippt die Post täglich eine LKW-Ladung Pakete vor den Eingang der taz. Anfangs reichten noch zehn studentische Hilfskräfte, die mit Schneeschippen den täglichen Manuskriptberg in einen extra angemieteten Baucontainer schaufelten, doch mittlerweile müssen Gabelstapler im Schichtdienst rund um die Uhr die Kochstraße räumen, damit überhaupt noch jemand durchkommt.
Über den Daumen gepeilt sind gut drei Trilliarden Postsendungen mit einer durchschnittlichen Dicke von einem halben Meter angekommen. Übereinander gestapelt ergäbe dies eine Strecke bis zum Uranus, sechsmal um den Saturn herum und dann bis zum Ende der Galaxie. Nebeneinandergelegt könnte man mit den Manuskripten die Fußballfelder aller an der WM teilnehmenden Staaten um dreißig Meter aufbocken und hätte noch genug Papierstapel übrig, um die Weltmeere zu pflastern. Trotzdem halten wir natürlich unser Versprechen und rezensieren einige Manuskripte, die wir willkürlich mit einem langen Klappspaten an verschiedenen Enden des Papierbergs herausgebaggert haben:
„Nebel über Neckarau“ heißt ein Heidelberg-Krimi von Andreas Ragoschke und Julia Schumm, in dem ein Kommissar namens „Hofheinz“ zunächst über den Herbst nachdenkt, dann gegen wahnsinnige Homöopathen ermittelt. Kann man machen, wenn man in Heidelberg zu Hause ist. Weniger lustig ist das Manuskript „Moloch Arbeitsamt – Erfahrungen eines Betroffenen“. Der Betroffene vergaß leider, seinen Namen zu vermerken, dafür beginnt er mit den Worten „Ich habe genug. Restlos“ und endet mit der berechtigten Frage „Wie lange wollen wir uns das noch bieten lassen?“. Dazwischen wird in Dramenform der Leidensweg eines arbeitslosen Datentypisten aufgefächert. Keine leichte Kost.
In „Irrland“ beginnt Rainer W. Menzels Roman „Vom Winde verfehlt“. Eine Geschichte über „Starlett O’Harry“ und „Ätschley Melody“, die der Autor als „Ultimative Parodie“ ankündigt. Viele Sprachspiele und viele Figuren. Am Ende wendet die Zukunft Starlett „ihre bis zur Unkenntlichkeit geschminkte Fratze zu und sandte ihr ein heimtückisches Lächeln“. Eine Fortsetzung der Geschichte ist bereits angekündigt. Nun ja. „Schreiben fällt mir schwer“, schreibt H. Lingen in seinem Manuskript „Nähe“. „Ich bin überrascht und erschreckt zugleich. Zu schreiben, die Buchstaben aneinanderzureihen, es ist schwieriger als zu reden.“ Damit hat er eindeutig Recht und äußert eine uralte Wahrheit. Warum sein Text nach sechzig Seiten mit der 17-maligen Wiederholung des Wortes „Herzchen“ endet, bleibt das Geheimnis des Autors.
Die Gedichtsammlung „Undine spricht“, verfasst von Nora-Maria Focke, enthält leider keinen einzigen Endreim, dafür aber „frei nach P. Celan“ das Gedicht: „Menschenmenge / in der ausgedorrten Wüste. / Ein Wegweiser der Nähe / schlendert sich zur Oase – es ist / kein Wasser zu finden außerhalb der Wüste.“ Dies muss man nicht untereinander schreiben, außerdem bleibt die Frage, ob ein Wegweiser „sich schlendern“ kann, ganz und gar unbeantwortet. Dafür schickten gleich vier Autoren (Michael Burschik, Thomas Eckhard, Joachim Pack und Michael Stetzuhn) mit „Wetterleuchten am Watzmann“ einen Alpenroman mit opulenten bayerischen Dialogen ein. Kapitelüberschriften wie „Im Würgegriff des Alpenkönigs“ und „Der Überfall der Teufelsgemsen“ sind schwer zu überbieten. In Anna Zegelmanns Geschichte „Eine wunderschöne Frau“ stehen die Sätze: „Zwei unterdrückte Seufzer treffen sich in der Mitte zwischen ihren Mündern und sterben auch dort. Es sind die Väter von Küssen, die Hunger haben.“ Darauf muss man erst mal kommen. Schön auch folgende Formulierung aus Wolfgang Zelmens Derrick-Geschichte: „Polizei-intern war es Derricks Feinden nicht gelungen, ihm ein Ei an die Schiene zu nageln.“
„Es scheint, dass Menschen am Ende der Welt zu summen pflegen“, schlussfolgert Sabine Havelka in ihrem handschriftlichen Reisebericht aus Bali. „Wahrheit hat mit Klarheit des Denkens nichts zu tun“, meint Isidor Sneperger in seiner Aphorismensammlung. Ganz passabel auch dieser Witz aus einer Geschichte von S. Soltau: „Kommt eine Frau zum Psychiater, eine Brasilianerin mit langen Beinen, festem Arsch und hübschen Brüsten – ein geiler Feger. Der Psychiater reißt ihr die Kleider vom Leib, schmeißt sie aufs Sofa und nimmt sie kräftig durch. Das war mein Problem, nun zu ihrem!“
Gnadenlos gelobt werden müssen die handschriftlich verfassten Kinderbücher „Anna im Mischmaschland“ von Monika Djalali, ein buntes Buch mit vielen schönen Zeichnungen für ein beneidenswertes Enkelkind und „Der Zwerg mit der Marzipannase“ von Jean Becker, der die Geschichte für seine fünfjährige Tochter schrieb. Doch der per Klappspaten ermittelte Gewinner der Kurzrezensionen ist Tim Kropp. Nicht nur, weil er seine gut lesbaren Geschichten fein in „Spass“- und „Ernst“-Stapel sortiert hat, sondern weil er Gedichte zu wirklich relevanten Themen verfassen kann: „Ein jeder kennt wohl das Gefühl / Des Furzes, der wild drängelt / Und, betrachtet man es kühl, / Um Austritt lauthals quengelt. / (…) / So sitzt man still und steif herum, / vermeidet jedes Bücken / Und fragt sich leise: Gott warum? / Warum muss er so drücken? / (…) / Der Mensch, erpresst durch Furzes Qual / Beginnt nun einzusehen, / Dass ihm nur bleibt die eine Wahl / Bezahlen und dann gehen. / Allein nach Haus, Kein Fremd Gehör / Erfüllt der Mensch die Bitte / auf dass er ihn nicht länger stör / zu fahren durch die Mitte. / Der Furz schießt vor, nun ist er frei / Sein Klang schwingt voller Spott / Der Mensch, nur froh, dass es so sei / ruft: Danke lieber Gott!“
MATTHIAS THIEME
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