: Die Bildersammlerin
Neu im Kino: „Les glaneurs et la glaneuse“ („Die Sammler und die Sammlerin“) von Agnès Varda
Nach der Ernte durch die Besitzer darf in Frankreich jedermann in die Obsthaine, auf die Kartoffeläcker, in die Weinberge und in die Gemüsefelder kommen und sammeln, was die Feldarbeiter und Erntemaschinen übrig gelassen haben. Dafür gibt es ein verbrieftes Recht, das bis zum 2.November 1554 zurückreicht.
Dies erfahren wir so genau, weil die Filmemacherin Agnès Varda einen Anwalt (das „M. Le Maitre“ klingt so schön bourgeois) in ein Kürbisfeld gestellt hat, wo er über die Rechtslage aufklärt.
Diese „Sammler“ haben im französischen Kulturkreis offensichtlich eine ganz andere Stellung als etwa im deutschen. Während uns zu dem Thema allenfalls der Lumpensammler von einst, die Sperrmühldurchwühler und die Obdachlosen an den Mülltonnen von heute einfallen, kann der gebildete Franzose gleich eine ganze Anzahl von Gemälden aufzählen, auf denen Frauen von den Feldern Getreide oder Kartoffeln aufsammeln. „Les glaneurs“ (von Francois Millet) und „la glaneuse“ (von Jules Breton) sind die beiden Berühmtesten, und mit ihnen beginnt Agnès Varda ihren Dokumentarfilm über das Sammeln in den Zeiten der neuen Armut.
Hierfür ist sie ein Jahr lang durch Frankreich gereist. Mit einer neuen digitalen Kamera, die so leicht und beweglich ist, dassauch die Bilder zwar gestochen scharf aber doch flüchtig aussehen, wodurch der Film immer spielerisch, wie improvisiert wirkt. Die Filmemacherin bleibt auch nie allzu ernsthaft und eng am Thema kleben. Es machte ihr offensichtlich Spaß, mit dieser neuen Technik des Bildermachens zu spielen, und warum sollte sie ihre Spielereien nicht auch in den Film integrieren? So sieht man sie ihre Hand in extremer Großaufnahme filmen (“An den Falten sieht man, es geht bald zu Ende“), oder die Objektivklappe, die mit den Bewegungen der Kamera tanzt, weil Frau Varda vergessen hatte, diese abzustellen.
Sie sammelt Bilder, vor allem aber Menschen. Der Film ist voll gepackt mit Kurzporträts von Sammlern. Viele davon sind natürlich arm, einige Obdachlos. Aber keiner klagt, der Film ist alles andere als eine Polemik über die soziale Misere. Statt dessen zeigt Varda die Sammler bei ihrer Arbeit: in den Resten der Märkte suchend, in riesigen Haufen von Kartoffeln schaufelnd, die ein Betrieb abgeladen hat, weil die Kartoffeln entweder zu grob oder zu klein sind. Hier holte sich Agnès Varda einige grobe herzförmige Erdfrüchte, und auch sonst sammelt sie immer gerne selber mit. Die Sammler sind ihre Wahlverwandten, deshalb findet sie auch so viele von ihnen, und bringt sie so unverkrampft vor der Kamera zum Reden.
Spannend an ihrem Film, den man eigentlich ein Video-Tagebuch nennen sollte, ist, was alles von wem gesammelt wird. An der Atlantikküste kann man Austern, die durch Sturm oder Springfluten aus den Bänken der Austernzüchter geschwemmt werden, am Strand aufsammeln. Und einer der besten Köche des Landes streicht lieber selber durch die Felder und sucht sich eine Tomate hier und einen Kräuterstrauch dort, als dass er „Sachen aus Italien kauft, die unreif geerntet werden“.
Fast jeder Sammler ist ein Philosoph, keiner wirkt bei seiner Arbeit würdelos, und oft wird das Gesammelte zur Kunst. Schlechte Kunst wie bei dem exzentrischen Russen, der seinen Krempel im Garten zu riesigen Haufen mit vielen Puppen darinnen zusammengefügt hat (“Ich mag Puppen und ich bin Maurer“), aber auch gelungene Werke, die aus gefundenen Objekten zusammengefügt wurden und jetzt in Galerien und Museen zu finden sind. Ein Weinbergbesitzer, der die Sammler zur Nachlese einlädt, ist nebenbei Psychoanalytiker. Ist das fürs Thema wichtig? Nein, aber man lernt ihn trotzdem gerne kennen - Agnès Varda zeigt halt gerne, wenn und was sie alles aufgesammelt hat.
Mit den Sammlern hat Agnès Varda eine sehr potente Metapher gefunden, mit der sie zugleich den Zustand der Welt und sich selber auf einen Punkt bringen konnte. Und wenn ihr Film manchmal etwa unordentlich und dahingeworfen wirkt, ist dies wie eine Aufforderung an den Sammler im Zuschauer: Durchstöbern Sie ihn, und Sie werden viel Schönes finden!
Wilfried Hippen
„Les glaneurs et la glaneuse“ („Die Sammler und die Sammlerin“) läuft am Freitag abend um 18.30, am Samstag um 21.30 Uhr und von Sonntag bis Dienstag um 20.30 Uhr im Kino 46 in der Originalfassung mit Untertiteln
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