: Evolutionäre Irrläufer
Der Kleingarten als Endlager für humanoiden Sondermüll im eigenen Dung
Einer altbekannten Tatsache zufolge hat die Menschheit den spektakulärsten ihrer evolutionären Irrläufer in Gestalt des Nachbarn hervorgebracht. Und einen ganz besonderen Zuchterfolg bei den Troglodyten stellt der Kleingartenbesitzer vor. Glauben Sie ja nicht, hier handele es sich um einfach nur Verrückte, vom Wickeltisch Gefallene oder willkürlich radikalisierte Randgruppen. Nachbarn sind in weiten Teilen unserer Welt mehrheitsfähig, Tendenz steigend.
Der Kleingarten als Endlager für humanoiden Sondermüll in den verschiedensten Fäulnisstadien ist die am besten passende Griffmulde für die Pranke des Unheils, um den vernunftgesteuerten Weltenlauf zu stoppen. Nachbarn und Kleingärtner lieben die Geselligkeit, unsere Muttersprache hat für beide Wörter konsequenterweise keinen Singular parat. Und wenn doch, wird der ab heute verboten! Wie ihre Handtuchwohnungen sind ihre Handtuchgrundstücke dem heimischen Koben nachempfundene Quadratzoll-Latifundien, die sie vor den letzten Resten an Intimität schützen. Da wesen sie im eigenen Dung, verlassen leichtsinnig den bewährten Weg der darstellbaren Form und nutzen die nach ihrer Meinung viel zu kurze Zeit, um die eigene Schwundexistenz vollends zu verhunzen. Da vermitteln sie dem Beobachter einen Hauch von Subsistenzwirtschaft und, meinethalben, Kommunitarismus.
Klar ist, dass sie in ihrer Totalität einer uns gnostisch nur mühsam zugänglichen Lärmsekte anzugehören scheinen, nein, es unbezweifelbar tun. Nicht klar ist, warum es in ihrem Mikrokosmos ständig etwas zu tun gibt. Wenn nämlich die Kleingärtner schon nicht einander totschlagen, so wenigstens die Zeit. Mit Lärm. Engagiert legen sie Zeugnis ab von ihrer Vorliebe für den Schall des Rasenmähermotors in seinen ärgsten Ausformungen sowie Pur- und Wolfgang-Petry-Klang. Anschließend werden die Grashalme nachgezählt, die Blätter ausgerichtet, wird die Blumenerde gesäubert, der Laubsauger hochgetunt, das Wetter diskutiert, werden heimlich ein paar Gallonen Altöl in des Nachbars Humus untergehoben, mit Zwillen und Pumpguns wird die Lufthoheit gesichert, die Laube neu gestrichen (der Anstrich von heute Früh war bereits wieder in Ungnade gefallen), das Radio lauter und das Bier warm gestellt.
Ab 18 Uhr werden sie verstärkt initiativ, legen sich Fettreserven an, als gelte es, die nächsten drei Erdzeitalter zu überdauern; dann ist man nur noch Biologie. Aufgestachelt durch Flippers-Rhythmen und alles andere, was den Maßgaben der Unterhaltungskunst strikt zuwiderläuft, erzittert die Luft von Verdauungs- und Paarungsbegleitlauten. Der Nachwuchs, wie aus disparaten Fettbausteinen gebastelt, rottet sich mit billiger Unterhaltungselektronik aus und kompostiert anschließend unbehelligt in einer Ecke des Minianwesens. Erde wird ja manchmal auch gebraucht. Wer da nicht wegrennen möchte.
Hören Sie nun, was gestern geschah: Meine Wohnstatt grenzt an die zagen Ausläufer der nachweislich totalitär strukturierten Kleingartenkolonie Die Rosenfreunde. Der Abend lau. Bratwurstwetter. Die Kulturlandschaft in ein Licht getaucht, als sähe man sie durch eine Wühltischsonnenbrille. Der Wind wie aus verjauchten Luftpumpen gespendet. Meine Nachbarn, sie hören nicht auf mich, aber auf die Rufnamen Heike und Frank, begrüßen brüllend ihren missratenen Sohn. Mirko. Sohnemann Mirko hat es sich heute zur Aufgabe gemacht, mit seiner neu erworbenen Original-Wehrmachtsuniform zu paradieren. Vater Frank stellt das Radio lauter, dann stolz: „Mein Sohnemann!“ Zustimmendes Gejohle und Gelächter bei Eltern und herbeigekarrten Bekannten. Dosengetränke und Destillate, für die unsere Sprache noch keine Begriffe kennt, richten Irreversibles in ihren Blutbahnen an und lassen den Lärmpegel gen empfindliche Höhen schnellen. Inzestuöse Neigungen werden ausformuliert. Einer verabfolgt sich Glycerin intravenös, zwei Cholesterinjunkies setzen den goldenen Schuss. Der Radioton – wie von Geisterhand dirigiert – schwillt bedrohlich an und mischt sich mit hochoktavigen Quetschlauten, denn die Gartenzwerge fürchten nun zu Recht um ihre Unschuld. Affektlabilität, so weit Augen und Ohren reichen.
Es ist weit nach 23 Uhr. In jähen Anfällen von Aberglaube fleht der geplagte Chronist zum Christengott, er möge des Himmels Schleusen öffnen. Schusterjungen, besser: Scheiße möge herniederfallen, jeder Klumpen solle anders stinken und dieses unselige Pack unter sich begraben. Und siehe: Es geschehen noch Zeychen & Wunder. Zwar ist es nicht Scheiße, was da der Schwerkraft gehorcht und der Uniform samt debilem Träger im Handumdrehen Vogelscheuchenstatus verleiht; ein ausgewachsener Graupel tut’s doch auch. Hört eben nicht mehr so recht, der Alte da oben, sonst hätte er ja schon längst und freiwillig vorgenannte Interpreten vom Erdenball getilgt und die Volksempfänger gleich mit.
MICHAEL RUDOLF
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