: Flickenteppich Asylrecht
Der lange Weg zu einem gemeinsamen europäischen Asylrecht: Aus Rechtsansprüchen wurden im Laufe der Verhandlungen im EU-Rat dutzende von Kannbestimmungen. Der Harmonisierungsgrad im Asylrecht bewegt sich nur knapp über null
von KARL KOPP
Einen Tag nach dem Internationalen Flüchtlingstag trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Sevilla. Für den Flüchtlingsschutz in Europa standen bereits im Vorfeld die Zeichen auf Sturm. Unter der spanischen Präsidentschaft wurde die Migrations- und Asylpolitik zum Schwerpunktthema dieses Gipfels erkoren. Die Mehrheit der EU-Staaten versteht darunter in erster Linie die Bekämpfung der „illegalen Einwanderung“.
Es geht um mehr Abschottung und effizientere Abschiebung. Dass diese Maßnahmen den Zugang von Schutzsuchenden zum Territorium der EU-Mitgliedsstaaten erschweren oder unmöglich machen, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern immer mehr Programm. Kanzler Schröder gehörte mit seiner Forderung nach Sanktionen gegenüber Transit- und Herkunftsländern zum Kreis der europäischen Hardliner. Auch wenn sich diese Forderung nicht durchsetzte, geht es im Kern um die weitere Auslagerung des Flüchtlingsschutzes. Die EU-Staaten beziehen dabei auch zunehmend Verfolgerstaaten wie die Türkei in das Konzept der vorverlagerten Abwehr von Fluchtbewegungen ein.
Die EU-Staaten einigten sich auf restriktive Maßnahmen, aber ein gemeinsames europäisches Asylrecht ist weiterhin nicht in Sicht. Zwar arbeitete die europäische Kommission zügig das migrations- und asylpolitische Programm von Amsterdam ab und legte zwischen Dezember 1999 und September 2001 Richtlinienvorschläge zu allen asylrechtlich relevanten Aspekten vor: Asylverfahren, soziale Aufnahmebedingungen, Flüchtlingsbegriff und ergänzende Schutzformen. Die Kommission unter Antonio Vitorino strebt damit einen „Mindeststandard“ für ein gemeinsames europäisches Asylsystem an. Alle Brüsseler Initiativen zeichnen sich durch hohe Schutzstandards bei minderjährigen Flüchtlingskindern, bei traumatisierten Flüchtlingen und Vergewaltigungsopfern aus. Ihre Durchsetzung in der EU würde zumindest einen partiellen Bruch mit der restriktiven Asylpolitik der 90er-Jahre bedeuten.
Bis heute jedoch wurde lediglich eine einzige asylrechtliche Richtlinie im Rat beschlossen: die sozialen Aufnahmebedingungen im Asylverfahren. Angesichts der sehr verschiedenen Ausgangsvoraussetzungen in den Mitgliedsstaaten, bei den Sozialsystemen und der sozialen Ausgestaltungen des Asylverfahrens formulierte bereits die Kommission niedrige Mindeststandards mit vielen Kannbestimmungen. Als Ausgleich sah die Kommission den Zugang zum Arbeitsmarkt bereits nach einem halben Jahr vor. Im Laufe der Verhandlungen in den Ratsarbeitsgruppen hat der Richtlinienvorschlag mannigfaltige Verwässerungen erfahren. Übrig bleibt eine Richtlinie, die alle strittigen Punkte nicht löst, sondern ins Ermessen der Mitgliedsstaaten stellt. Jeder kann weiterhin nach seiner Fasson agieren. Der Harmonisierungsgrad im Asylrecht in der ersten Vergemeinschaftungsphase bis 2004 bewegt sich knapp über null.
Der europäische Flickenteppich im Asylrecht wird vorerst erhalten bleiben und bietet viele Möglichkeiten, in einem ungebremsten Wettlauf der Schäbigkeiten zwischen den Nationalstaaten die noch existierenden höheren Standards nach unten anzugleichen. Andere im Rat angenommene Richtlinien und Verordnungen besitzen überwiegend eine stark repressive Schlagseite. Beschlossen wurde die Fingerabdruckdatei Eurodac, um die Zuständigkeiten bei der Asylprüfung in Zukunft effizienter zu regeln. Außerdem einigte man sich auf eine neue Visa-Verordnung mit nunmehr 130 visumpflichtigen Ländern und die EU-weite Sanktionierung von Beförderungsunternehmen sowie auf diverse Maßnahmen zur Schlepperbekämpfung.
Die Bundesrepublik verhindert oder verzögert in zentralen institutionellen Fragen die Beseitigung des viel zitierten Demokratiedefizits im Politikfeld Justiz und Inneres und ein gemeinsames europäisches Asylrecht. Die bundesdeutschen Neins heißen Amsterdam, Nizza und Laeken. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl setzte bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip und das bloße Anhörungsrecht des Europäischen Parlamentes maßgeblich durch. Auf dem Reformgipfel in Nizza im Dezember 2000 verhinderte die rot-grüne Bundesregierung den automatischen Übergang im Mai 2004 zu Mehrheitsentscheidungen, zu realen Mitentscheidungsrechten des Europäischen Parlaments im Asylrecht erneut. In Laeken scheiterten im Dezember 2001 Versuche auf EU-Ebene, vorzeitig in diesem Bereich in die Mehrheitsentscheidungen überzugehen, am massiven Widerstand Deutschlands.
Zum unveräußerlichen Inventar deutscher Verhandlungsposition gehört zum Beispiel auch die EU-weit einzigartige Residenzpflicht für Asylsuchende. Auch bei der Frage des Kindernachzugsalters von Migrantenkindern unterschreiten die Bundesrepublik und Österreich den europäischen Standard. Dieser liegt bei 18 und wurde auch von der Europäischen Kommission aufgegriffen. Ihr sehr umfassender und zukunftsweisender Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung wurde Stück für Stück in mehrjährigen Verhandlungen unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands und Österreichs zerpflückt. Aus Rechtsansprüchen wurden im Laufe der Verhandlungen im Rat dutzende von Kannbestimmungen. Der mittlerweile dritte Vorschlag der Kommission zur Familienzusammenführung ist mit dem deutschen Zuwanderungsgesetz kompatibel. Ein engagierter asylrechtlicher Ansatz der Kommission ist vorerst gescheitert. Zurück bleiben eine politisch geschwächte Kommission und ein weiterhin ausstehendes europäisches Asylrecht.
Die Terroranschläge in den USA haben sowohl im EU-Kontext als auch in den Mitgliedsstaaten eine notwendige Öffnung der Debatte über eine andere Migrations- und Asylpolitik verschüttet. Der 11. September hat das Bedürfnis nach einer beschleunigten Vergemeinschaftung selbst bei EU-skeptischen Mitgliedsstaaten bestärkt, allerdings im Sinne verschärfter Maßnahmen der „inneren Sicherheit“. Ein europäischer Haftbefehl, eine gemeinsame Definition des Terrorismusbegriffs und der Rahmen des jeweiligen Strafmaßes wurden innerhalb von wenigen Wochen behandelt und beschlossen.
Die nationalen Antiterrorpakete werden auf die EU-Ebene transferiert. Forciert werden weitere Verschärfungen bei den Einreisebestimmungen, Aktionspläne zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung, der Aufbau einer europäischen Grenzpolizei und die Schaffung eines gemeinsamen Visa-Identifikationssystems. In EU-Mitgliedsstaaten wird versucht, letzte Sicherungen beim Abschiebeschutz auszuhöhlen. Menschenrechtliche Standards werden zunehmend zur Disposition gestellt.
England setzte im Dezember 2001 die Europäische Menschenrechtskonvention zum Teil außer Kraft. Mit der Verkündung des Notstandes ist es nunmehr möglich, Terrorismusverdächtige unbegrenzt ohne Anklage und Beweise zu inhaftieren, wenn sie wegen drohender Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung nicht abgeschoben werden können.
Die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in den Mitgliedsstaaten und die Tatsache, dass auch die bürgerlichen bis hin zu den Sozialdemokraten zunehmend deren Inhalte übernehmen, werden den Druck auf das Asylrecht verschärfen und die Arbeit des EU-Konvents erschweren.
Die Zukunft eines europäischen Asylrechts entscheidet sich vor allem an den Außen- und vorverlagerten Außengrenzen: Ohne den Abbau der Barrieren, ohne legale und gefahrenfreie Zugänge für Schutzsuchende würde selbst ein liberales Asylrecht wirkungslos bleiben. Hinzu kommen institutionelle Reformen: Die weitere Gestaltung eines europäischen Asylrechts hinter verschlossenen Türen des Rates, geprägt von den Ministerialbürokratien der Mitgliedsstaaten, wird eine völkerrechtskonforme Vergemeinschaftung erschweren.
Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, reale Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, eine starke, parlamentarisch kontrollierte Kommission und Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof sind noch keine Garantie für ein liberales europäisches Asylrecht. Aber diese ersten Reformschritte sind eine Grundvoraussetzung dafür, dass Positionen für einen effektiven Flüchtlingsschutz überhaupt Gehör finden.
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