: So lesen Sie den neuen Walser
von DIRK KNIPPHALS und KOLJA MENSING
1. Sie verstehen die Aufregung nicht? Greifen Sie tief in die Altpapier-Tonne.
Sie brauchen die Zeitungen der letzten vier Wochen, um einen ersten Einblick in den Debatte zu bekommen. Fangen Sie am 29. Mai an zu lesen. An diesem Tag veröffentlichte Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen offenen Brief an Martin Walser, in dem er einen Vorabdruck von „Tod eines Kritikers“ ablehnte. Grund: Der Roman sei antisemitisch.
2. Basteln Sie sich Ihr original taz-Marcel-Reich-Ranicki-Lesezeichen.
Schneiden Sie die Vorlage für das Lesezeichen auf dieser Seite aus. Kleben Sie es auf ein Stück feste Pappe. Umrisse nachschneiden, buntes Bändchen ankleben – fertig ist das Lesezeichen.
3. Stopp! Gehen Sie erst einmal zurück in das Jahr 1998.
Damals hat Martin Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche führte er aus, dass er sich wegen des Holocaust nicht mehr öffentlich schämen müssen wolle. Das führte zur Walser-Bubis-Debatte, die große Wellen schlug. Seitdem gilt Walser als Normalisierer, der an die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg nicht mehr erinnert werden will. Er selbst beschwerte sich, er sei von den Medien bewusst missverstanden worden.
4. Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie sich Feinde machen werden.
Sie haben es sicher schon bemerkt: Walser ist politisch nicht korrekt. Kaufen Sie den Roman also nicht bei der alteingesessenen Buchhändlerin um die Ecke, die ihnen damals freundlicherweise die Klemperer-Tagebücher ein paar Tage zurückgelegt hatte. Den Walser würde sie Ihnen nicht verzeihen. Gehen Sie in eine Bahnhofsbuchhandlung oder bestellen Sie im Internet. (Bestehen Sie auf neutraler Verpackung.)
5. Was Sie auch machen – es ist falsch.
Sie werden auf jeden Fall zum Antisemiten abgestempelt werden. Frank Schirrmacher und Martin Walser haben es bereits vorgemacht. Auf Schirrmachers Ablehnung des Romans antwortete Walser in Interviews: Wer „Tod eines Kritikers“ ablehnt, weil er antisemitische Klischees entdeckt, ist selbst ein Antisemit. (Siehe auch: Jürgen W. Möllemann vs. Michel Friedmann.)
6. Nehmen Sie nun Ihr Exemplar zur Hand. Überprüfen Sie zunächst, ob Ihre Ausgabe die bösen Stellen überhaupt enthält.
Die Version des Manuskripts, über die vorab erbittert gestritten wurde, hatte das Lektorat das Suhrkamp Verlages noch gar nicht durchlaufen. Änderungen wären also noch möglich. Überzeugen Sie sich selbst: Ist Walser eingeknickt? Gleich auf der zweiten oder dritten Seite müsste das abgewandelte Hitler-Zitat stehen: „Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschossen.“ Im zweiten Kapitel des zweiten Abschnitts müsste dieser Satz wiederholt werden. Kurz zuvor müsste der Satz gefallen sein: „Das Thema war jetzt, dass Hans Lach einen Juden getötet hatte.“ Hier wird die Angelegenheit auch als Saisonthema der Medien heruntergespielt. Von der „Herabsetzungslust“ des Kritikers Ehrl-König ist beim Auftritt der Figur Rainer Heiner Henkel die Rede. Das Wort „Verneinungskraft“ spricht eine schizophrene Figur namens Mani Mani aus. Beide Wörter galten in der Debatte als antisemitische Klischees.
7. Seien Sie beim Lesen auf der Hut und achten Sie auf Anspielungen.
„Tod eines Kritikers“ ist ein so genannter Schlüsselroman. Die Romanfiguren folgen also realen Vorbildern. André Ehrl-König ist natürlich der Starkritiker Marcel Reich-Ranicki. Einige Details hat Walser aber auch bei Fritz J. Raddatz (Die Zeit) entlehnt. Rainer Heiner Henkel erinnert an Walter Jens. Der Verleger Ludwig Pilgrim trägt Züge des Suhrkamp-Patriarchen Siegfried Unseld. Dessen Gattin Ulla Berkéwicz tritt unter dem Namen Julia Pelz auf. Dann gibt es noch eine Martha Friday, hinter der Susan Sontag zu vermuten ist, einen Professor Wesendonck, in dem sich Jürgen Habermas wiedererkannt hat usw.
8. Aufgepasst! Suchen Sie nicht nach Jürgen W. Möllemann.
Jürgen W. Möllemann ist überall. In Walsers Roman hat er es trotzdem nicht geschafft. In kleinem Kreis soll er gesagt haben, dass diese Tatsache für ihn Grund genug sei, „den neuen Walser“ (O-Ton Möllemann) nicht zu lesen.
9. Schlagen Sie nach bei Goethe.
André Ehrl-König – den Namen haben Sie schon mal gehört? Genau. Da war dieses Gedicht von Goethe: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? / Es ist der Vater mit seinem Kind …“ Für Martin Walser ist der „Erlkönig“ der grausame Literaturkritiker, der das Werk des Schriftstellers zerstört – so wie in Goethes Gedicht das Kind nach der Berührung des bösen Geistes in den Armen des Vaters stirbt. Die Vorgeschichte: Als Walsers Roman „Halbzeit“ in der FAZ verrissen wurde, gab Kritiker Friedrich Sieburg bereits den Erlkönig: „Als mir das Buch wie ein Neugeborenes … in die Arme gelegt wurde“ begann die Rezension – und endete mit dem symbolischen Tod des Buches. Das war vor 40 Jahren. Walser hat es sich gemerkt.
10. Seien Sie nicht enttäuscht.
Über den Literaturbetrieb erfahren Sie nicht mehr, als Sie sowieso schon wussten. Dass Marcel Reich-Ranicki eine etwas manirierte Aussprache hat, wird Ihnen schon bekannt gewesen sein. Walser parodiert sie eher mühevoll. Vielleicht haben Sie auch bereits vorher geahnt, dass es bei den Sozialkontakten unter Dichtern und Denkern nicht nur um die hehre Kunst geht, sondern auch um Intrigen und Eifersüchteleien.
11. Sie schlafen bei der Lektüre ein.
Keine Angst. Sie sind nicht der einzige, der den Roman etwas schwerfällig findet. Machen Sie auch mal eine Pause. (Benutzen Sie ihr taz-Marcel-Reich-Ranicki-Lesezeichen!) Sorgen Sie für ausreichende Frischluftzufuhr. Und überblättern sie auch mal ein paar Seiten.
12. Regen Sie sich ruhig über das deutsche Feuilleton auf.
Das hält Sie munter. Es war gar von einem „Feuilletonkrieg“ die Rede, weil die Süddeutsche Zeitung den Roman verteidigte, nachdem die FAZ ihn heftig attakiert hat. Dazu müssen Sie wissen, dass bei der SZ viele Feuilletonisten arbeiten, die im Streit von der FAZ geschieden sind (Hinweise liefert hier Sigmund Freud. Lesen Sie nach unter den Schlagworten „Inszesttabu“, „Bruderhorde“ und „Vatermord“). Zudem müssen Sie wissen, dass sich die Feuilletons eigentlich immer streiten, weil sonst die Debatten auch viel zu langweilig würden.
13. Ganz wichtig: Verwechseln Sie bei Gesprächen über das Buch keinesfalls Robert Walser mit Martin Walser.
Das könnte peinlich werden. Robert Walser war der schweizerische Schriftsteller, der lange Jahre seines Lebens in einer Nervenheilanstalt zubringen musste. Gerne wird er als Opfer einer repressiven Gesellschaft gedeutet. Ihn zu lesen gilt in gebildeten Kreisen als sehr schick – was bei Martin Walser inzwischen bezweifelt werden muss.
14. Wundern Sie sich nicht über den letzten Satz.
Richtig bemerkt. Der letzte Satz des Romans gleicht dem Anfangssatz bis aufs i-Tüpfelchen. Heißt das, es geht wieder von vorne los – und Sie müssen das Buch noch einmal lesen? Nein. Es ist ein Trick von Walser, um zu überprüfen, ob die Rezensenten sein Buch auch wirklich bis zum Ende gelesen haben. Vor gut fünfzehn Jahren hat er das schon mal in seinem Roman „Brandung“ versucht.
15. Ach so – Sie haben noch gar nicht angefangen zu lesen?
Macht nichts. Lassen Sie den Roman eingeschweißt und bringen Sie ihn zurück in die Buchhandlung. Kassenbon nicht vergessen. Lassen Sie sich ihr Geld zurückgegeben (19,90 Euro). Wenn Sie unbedingt die anzüglichen Stellen lesen wollen, besorgen Sie sich einfach eine Schwarzkopie aus dem Internet. Oder Sie vergessen die ganze Sache einfach.
16. Schauen Sie mal wieder Fernsehen.
Das macht auch Spaß.
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