: Keine Lust auf die billigen Plätze
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aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Blaue Kärtchen für Delegierte, die Zwischenfragen anmelden wollen, weiße Namenskärtchen für die Plätze der 105 Mitglieder, grüne für ihre Stellvertreter. Der Konvent, der die Europäische Union neu erfinden soll, hat zunächst die Farbenlehre neu erfunden. Die Lettin Inese Birzniece, die das Parlament ihres Landes vertritt, hat ihr grünes Kärtchen aus der Halterung in einer hinteren Sitzreihe gezogen und in der dritten Reihe zwischen die weißen Kärtchen anderer osteuropäischer Vertreter gesteckt. Sie weiß inzwischen, dass es für die Neulinge nur einen Weg gibt, sich zwischen den EU-Profis Gehör zu verschaffen: Sie müssen als Gruppe auftreten.
Um die Sitzordnung hatte es zunächst heftige Diskussionen gegeben. In der Erklärung von Laeken, in der die Staats- und Regierungschefs den Arbeitsrahmen für den Konvent im vergangenen Dezember abgesteckt haben, steht nichts dazu. So musste sich Konventspräsident Valérie Giscard d’Estaing, der ansonsten die Laekener Erklärung wie eine Bibel zu Rate zieht, selbst etwas einfallen lassen. Gemeinsam mit seinem Präsidium entschied er, die Delegierten nicht in „politischen Familien“ zu platzieren, wie es in nationalen Parlamenten üblich ist.
Vor Beginn jeder Sitzung stecken nun Saaldiener 105 weiße Kärtchen in alphabetischer Reihenfolge in die vorderen Reihen. Danach kommen die 105 lindgrünen Kärtchen für die Stellvertreter an die Reihe. Die übrigen Plätze werden für Mitarbeiter, politische Beobachter und Journalisten frei gehalten. Seit die feierliche Eröffnung vorüber ist und im Plenum debattiert und gestritten wird, hält sich kaum noch jemand an diese Regel. Im Saal geht es meist zu wie beim Kindergeburtstag, wo die bunten Namenskärtchen bald in Kakaopfützen schwimmen und jeder sitzt, wo er will.
Peter Glotz zum Beispiel, der Vertreter der Bundesregierung, ist häufig in der so genannten Mickey-Mouse-Bar hinter dem Plenarsaal zu entdecken. Er sitzt auf einem der bunt bezogenen Stühle, deren Lehnen wie Mausohren aussehen, und erläutert Journalisten seine Reformvorstellungen. Im Plenum hält derweil ein Mitarbeiter die Stellung und schreibt alles mit.
Oder Ana Palacio. Sie gehört dem Präsidium des Konvents an und vertritt die spanische Regierung, die wiederum derzeit die Präsidentschaft im Europarat hat. Damit ist Ana Palacia die wohl derzeit mächtigste Frau im Konvent. Diszipliniert macht sie sich in jeder Plenarsitzung auf den Weg zu den vorderen Reihen, und jedesmal werden die paar Meter zum Hürdenlauf. Ihr Landsmann und Parteifreund Inigo Méndez de Vigo fragt sie, wie die spanischen Delegierten für den Jugendkonvent bestimmt werden, der im Juli in Brüssel tagen soll. Ein Mitarbeiter des sozialistischen Europaabgeordneten Carlos Carnero Gonzales will von ihr wissen, ob die spanischen Delegierten eine gemeinsame Position zu der Frage haben, wie künftig die Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Der dänische Nationalvertreter Henning Christophersen schlägt ein Treffen unter vier Augen vor, da die EU-Präsidentschaft am 1. Juli auf Dänemark übergeht.
Inese Birzniece dagegen geht völlig unbehelligt durch die Sitzreihen. Die 51 Jahre alte große, stämmige Frau mit den kupferroten Haaren ist eine auffällige Erscheinung. Sie könnte eine Bäuerin sein, die sich für ein Delegiertentreffen lettischer Landfrauen stadtfein gemacht hat. Wenn sie spricht, verflüchtigt sich dieser erste Eindruck aber: Tiefe, energische Stimme und geschliffene Sätze.
Birzniece ist in Kalifornien aufgewachsen, hat dort zwölf Jahre als Anwältin gearbeitet und im Juni 1990 in Riga eine englischsprachige Oppositionszeitung gegründet: Erwache!, ein Organ der Reformparteien. Im September desselben Jahres wechselte sie in die Pressestelle des lettischen Parlaments, wo sie im Januar 1991 den sowjetischen Putschversuch miterlebte. Inzwischen hat Birzniece einen lettischen Pass, seit 1993 sitzt sie als Vertreterin der lettischen Liberalen Partei im Parlament.
Als Juristin, ehemalige Vertreterin im Straßburger Europarat und langjähriges Mitglied im Europaausschuss des lettischen Parlaments ist Birzniece sowohl mit den Ritualen einer mehrsprachigen Debatte als auch mit den Kniffen der EU-Verträge vertraut. Dennoch sagt sie: „Ich fühle mich wie ein Pilot, der starten soll, ohne je mit einem Lehrer geflogen zu sein. Wir haben das Fliegen nur aus Büchern gelernt.“
Stunden verbringe sie abends vor dem Computer, um im Internet nachzuvollziehen, worüber in der EU seit 45 Jahren nachgedacht und gestritten wird. Es gebe in Lettland keine Experten, die eine bessere EU mitbauen könnten. Es fehle an Grundwissen über die Entscheidungsprozesse in der EU. „Wie können wir über das Europa von morgen nachdenken, wenn wir uns erst mal an das Europa von heute gewöhnen müssen?“
Dennoch – so zaghaft, wie sich das anhört, agiert die Lettin mit den breiten zupackenden Händen im Konvent keineswegs. Sie war es, die alle Delegierten aus den Kandidatenländern zu einem ersten Treffen zusammenbrachte, um die Kräfte zu bündeln, wo es um gemeinsame Anliegen geht. Als der schmächtige Slowene Alojz Peterle nach seiner nachgeschobenen Wahl zum Präsidiumsvertreter vor die Presse trat, antwortete oft sie den Journalisten. Mit ihrem amerikanisch geschulten Redestil, ihrem Sinn für Pointen und zugespitzte Sachverhalte verschafft sie sich öffentliche Aufmerksamkeit.
Die Wahl Peterles zum 13. Präsidiumsmitglied setzten die Kandidaten gegen den mächtigen Konventspräsidenten Giscard d’Estaing durch. Denn ein Vertreter für sie ist in Giscards Bibel, der Laekener Erklärung, nicht vorgesehen. Genauso wenig wie die Möglichkeit, Argumente auf Lettisch, Ungarisch oder Slowenisch vorzutragen. „Der Konvent wird in den elf Arbeitssprachen der Union arbeiten“, heißt es dazu in der Erklärung der Staats- und Regierungschefs.
Auch diese Regel ist inzwischen vom Tisch. Die Kandidaten haben durchgesetzt, dass sie in ihrer Muttersprache debattieren dürfen, wenn sie den Dolmetscher selber mitbringen. Birzniece trägt nun gelegentlich in Lettisch vor, obwohl sie sich auf Englisch sicherer ausdrücken kann. Die sechs Letten im Konvent haben eine Delegation gegründet. Neben dem Dolmetscher, der zu den Sitzungen aus Riga anreist, nutzen sie gemeinsam die Unterstützung aus der EU-Abteilung des lettischen Außenministeriums und teilen sich 1,5 Mitarbeiter in der lettischen EU-Mission in Brüssel.
Demnächst wollen sie zusätzlich eine Übersetzerin einstellen. Denn die Sitzungsdokumente liegen stets zuerst in Französisch vor – für den französischen Konventspräsidenten ist das wohl die einzig akzeptable Diplomatensprache. Manchmal dauert es einen ganzen Tag, bis die Papiere ins Englische übersetzt sind. Diese zweite Version ist, wie Birzniece festgestellt hat, oft ungenau und lückenhaft.
Inzwischen bewegt auch sie sich bei den zweitägigen Stippvisiten in Brüssel in einem politischen Netzwerk. Es ist längst nicht so verzweigt wie das von Ana Palacio. Aber es bewirkt, dass sie sich mehr als zu Anfang in die Reformdebatte eingebunden fühlt. Treffen mit den Liberalen im Konvent stehen ebenso auf ihrem Tagesplan wie ein Gedankenaustausch mit allen Vertretern nationaler Parlamente, mit den Delegierten anderer Kandidatenländer oder den lettischen Politikern. Ginge es nicht darum, Anfang Oktober in Lettland eine Wahl zu gewinnen, hätte sie selber fürs Präsidium kandidiert. Sie kann es sich aber derzeit nicht leisten, noch mehr Zeit fern vom Wahlkreis zu verbringen. Sie käme wohl auch in einen Interessenkonflikt: Während der Konvent zunehmend sein Eigenleben entwickelt und die Mitglieder sich gegenseitig davon überzeugen, dass die EU radikal reformiert werden muss, geht den lettischen Wählern alles viel zu schnell.
Wenn die lettische Politikerin vor Schülern, Landwirten oder Lokalpolitikern zu Hause über die EU spricht, muss sie gegen das Vorurteil anreden, dass „die in Brüssel“ auch nicht besser sind, als „die in Moskau“ es früher waren. Ein vernichtenderes Urteil ist aus dem Mund von Menschen, die früher von den Sowjets unterdrückt wurden, kaum denkbar. „Da wir in den Beitrittsverhandlungen keinen Spielraum haben, nur Bittsteller sind, die um Übergangsregelungen kämpfen, denken die Leute, das bleibt immer so. Sie glauben, dass Brüssel auch über unser Leben bestimmt, wenn wir EU-Mitglieder sind.“
Nachdem der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen im Februar vorgeschlagen hatte, die Direktzahlungen für Landwirte erst nach einer langen Übergangszeit auf das Niveau in den alten Mitgliedsländern anzuheben, stieg die Zahl der Beitrittsgegner von 28 auf 42 Prozent. Inzwischen ist sie wieder leicht gesunken – auf 38 Prozent. Im Frühherbst 2003 sollen die Letten entscheiden, ob sie der EU beitreten wollen. Birzniece fürchtet, dass der Reformprozess das Referendum negativ beeinflussen könnte.
Nach der Laekener Erklärung soll der Konvent spätestens im März 2003 seine Arbeit abschließen. Danach beginnt die Regierungskonferenz, die vor der großen Erweiterungsrunde einen neuen Vertrag erarbeiten will. Wenn sie den Konvent „ein bisschen hinauszögert“, spekuliert die Birzniece, wird die Regierungskonferenz eben später stattfinden. Die Neuen können dann zumindest Beobachter dorthin entsenden. Das wäre eine Chance, „das Schlimmste zu verhindern“. Das Schlimmste aus ihrer Sicht: eine übermäßig zentralisierte EU. Ihre Wähler, so glaubt sie, brauchen Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass viele Entscheidungen nicht in Riga, sondern in Brüssel fallen.
Sie selber allerdings fühlt sich in Brüssel bereits zu Hause. Auf dem Gang spricht eine liberale Europaabgeordnete sie an: Kommst du zu unserer Tagung nächste Woche in Straßburg? Bedauernd schüttelt Birzniece den Kopf. Nächste Woche hat sie Wahlkampftermine in Riga. Ihre Zukunft aber kann sie sich in Straßburg und Brüssel vorstellen. Wenn alles nach Plan verläuft, werden schon nach der nächsten Europawahl 2004 die neuen Mitgliedsländer eigene Abgeordnete in der Volksvertretung sitzen haben. Inese Birzniece könnte eine davon sein.
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