„Quittung für geringen Einsatz“


Interview CHRISTIAN FÜLLER,
SABINE AM ORDE

taz: Herr Schleicher, die Pisa-Studie mit ihren schlechten Noten für deutsche Schüler ist in Deutschland zu einem Wahlkampfinstrument geworden. Kann der Test unter solchen Bedingungen überhaupt Positives für die Zukunft bewirken?

Andreas Schleicher: Wer die Pisa-Studie für den Wahlkampf missbraucht, schadet letztendlich dem Bildungserfolg zukünftiger Schülergenerationen. Die Deutschen konzentrieren sich zu sehr auf die von Pisa aufgezeigten Probleme. Die wichtigste internationale Erfahrung mit Pisa ist aber, dass gute Bildungsleistungen und eine ausgewogene Verteilung der Bildungserträge möglich sind. Viele OECD-Länder haben die Probleme gemeistert – in überschaubaren Zeiträumen und mit bezahlbarem Aufwand.

Hier geht es nur noch darum, ob die CDU Recht und die SPD versagt hat.

Tatsache ist doch, dass weder CDU- noch SPD-regierte Länder im internationalen Bildungswettbewerb mithalten können.

Warum nicht?

Es mangelt vielfach an anschlussfähigem Wissen für weiterführende Lernprozesse. Und die deutsche Schule ist kaum fähig, ungünstige familiäre und soziale Voraussetzungen auszugleichen.

Aber zumindest Bayern scheint doch international gar nicht so schlecht dazustehen …

Auch das Spitzenland Bayern liegt international nur knapp über dem OECD-Mittel und reicht an die wirklich erfolgreichen Staaten wie Finnland, Kanada, Neuseeland, Australien, Irland, Korea, Großbritannien oder Japan nicht annähernd heran. Eine führende Industrienation wie Deutschland kann sich doch nicht an Platz zehn orientieren. Maßstab sind die besten Bildungssysteme der Welt.

Waren Sie überrascht, dass Deutschland so schlecht abgeschnitten hat?

Es war kaum damit zu rechnen, dass Deutschland in der Spitzengruppe liegen würde.

War das tatsächlich so klar?

Die Probleme sind schon lange bekannt. Seit der Studie „Bildung auf einen Blick“ von 1992 wissen wir, dass die Qualität des Bildungsangebotes ungenügend ist und die Bildungschancen schlecht verteilt sind. Selbst bei den Ausgaben liegt Deutschland heute klar unter dem OECD-Schnitt.

Was stört Sie als Pisa-Forscher an den Bildungsbemühungen Ihres Geburtslandes am meisten?

Bildung ist in Deutschland als zentrales Thema noch immer nicht erkannt. In Korea oder Japan ist das anders. Dort ist Bildung der Schlüssel zur gesellschaftlichen und sozialen Mobilität geworden. Was Deutschland in Sachen Schule und Hochschule gerade durchmacht, ist die Quittung für den geringen Einsatz, den man für Bildung bringt. Ich meine damit nicht nur den Staat, sondern auch die Schulen und die Wirtschaft. Alle Beteiligten müssen sich darüber im Klaren sein, dass die für Bildung eingesetzten Mittel Investitionen sind – und nicht nur als Konsum- und Kostenfaktoren verbucht werden sollten.

Aber Bildung ist doch für das deutsche Bürgertum immer die Aufstiegsidee schlechthin gewesen. Sie war geradezu Revolutionsersatz.

Schon. Nur ist das Geschichte. Auch in anderen Ländern waren die Bildungssysteme früher auf eine kleine Minderheit fokussiert. Aber das hat sich geändert. Bildungserfolg ist heute auf dem amerikanischen Kontinent, aber auch in Skandinavien Allgemeingut. Vielleicht ist Japan das beste Beispiel. Dort investieren selbst die armen Eltern noch ihr letztes Geld, um die Bildung ihrer Kinder sicherzustellen …

während in Deutschland, wie im 19. Jahrhundert, nach wie vor die gehobenen Schichten, Bürger- und Beamtenschaft Gymnasium und Universität weitgehend für sich reserviert haben.

Deutschland hat ein Bildungssystem, in dem sich trotz aller guten Vorsätze die Strukturen von Generation zu Generation fortsetzen. Wenn man hier Eltern mit einer akademischen Ausbildung hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit, ein Hochschulstudium abzuschließen, dreimal so hoch wie bei Nichtakademikern.

Auch andere Staaten haben dieses Problem nicht gelöst.

Aber Sie finden keine schulischen Diskriminierungen mehr, die so deutlich durch Herkunft oder Abstammung bedingt sind. In Japan gibt es praktisch keine soziale Differenzierung durch Schule und praktisch kein Schulversagen mehr. Es ist dort selbstverständlich, dass die Schule unterschiedliche Lernvoraussetzungen berücksichtigt – um Benachteiligungen zu vermeiden und Begabungen zu fördern. Kein Lehrer kann zu einem Schüler einfach sagen: Na ja, dich schicken wir jetzt auf die Haupt- oder auf die Sonderschule.

Bayern selektiert sehr stark. Welche Konsequenzen hat Auslese?

Auslesedruck beschränkt die Zahl der Hochschulabsolventen – die ein Industrieland wie Deutschland aber dringend nötig hat. Sie finden in Japan eine fast doppelt so hohe Beteiligung im Universitätsbereich, mit weniger als 10 Prozent Studierender, die ihr Studium nicht schaffen. Und Japan steht nicht alleine. Im OECD-Mittel schließen heute ein Viertel aller jungen Menschen eine Hochschulausbildung ab, in Deutschland gerade 16 Prozent.

Wie erklärt sich dieser Entwicklungsrückstand?

Der Bildungsstand in Deutschland lag traditionell auf einem sehr hohen Niveau, hat sich aber dem Wandel der Zeit nicht angepasst. Sehen Sie sich die Bildungsmöglichkeiten nach der Schule an: Es besteht hier eine breite Kluft zwischen dem in Deutschland ausgesprochen langen, akademisch ausgerichteten Hochschulstudium und der praktischen beruflichen Bildung. Es fehlt immer noch die Mitte, ein differenziertes, flexibles und transparentes Qualifikationssystem, in dem der Studierende seinen Bildungsweg gestalten kann. Andere Länder haben diese Spaltung überwunden.

Wo müsste eine Bildungsreform ansetzen?

Sie brauchen ein nachfrageorientiertes System, das auf den Bildungsinteressierten eingeht. Ein solches nachfrageorientiertes System beginnt übrigens schon im Kindergarten.

Wie können denn Vorschulkinder ihre Bildungskarriere planen?

Im übertragenen Sinne geht das, wenn es beim Wechsel vom Kindergarten in die Schule nicht so einen krassen Bruch gibt. Für den gibt es in Deutschland sogar einen Namen: „Schulreife“. Schon dieses Wort stört mich, dieses: „Warten wir mal ab, ob das Kind in die Schule passt.“

Was wäre die Alternative?

Die Frage muss doch sein: Wie können wir uns so um das einzelne Kind kümmern, dass es bei der Einschulung gute Startchancen hat? Ein klarer Bildungsauftrag für Kindergärten kann dazu beitragen, früh Lernbereitschaft zu fördern. Das ganze System muss sich weniger an dem orientieren, was Kindergarten, Schule oder Hochschule verlangen, sondern was der Lernende benötigt.

Bayerns Kultusministerin würde das wohl „Kuschelpädagogik“ nennen.

Das ist ein typisch deutsches Missverständnis, dass ein nachfrageorientiertes System lasch wäre. Natürlich legen erfolgreiche Pisa-Länder Bildungsziele fest – und überprüfen sie regelmäßig und systematisch. Aber es ist dann die Aufgabe der einzelnen Schule, den konkreten Lehrplan so zu gestalten, dass möglichst jeder Schüler diese Bildungsziele erreicht. So etwas nennen wir Ergebnisorientierung. In Deutschland dagegen gibt es unzählige Vorschriften. Der Staat legt hier fast alles fest: Nach Begabungen gegliederte Schulformen, die Lehrerzuweisungen an die Schulen, das Gehalt der Lehrer und sogar die Unterrichtspläne. Sollen die deutschen Schulen ergebnisorientierter werden, dann brauchen sie mehr Freiräume.

Wie soll sich das ändern? Um etwa die gegliederte Schule abzuschaffen, wäre eine Kulturrevolution nötig.

Auch innerhalb des bestehenden Schulsystems lassen sich Fortschritte erzielen. Wichtig ist, den „Lernenden“ und das Lernen selbst in den Vordergrund zu stellen. Das heißt, jeden Schüler nach seinen Fähigkeiten zu fördern, aber mit klaren Zielen, was am Ende des Schuljahres erreicht werden soll. Dazu sollte man den Schülern wenigstens am Anfang ausreichend Zeit zum gemeinsamen Lernen geben. In Europa finden Sie überall sechs Jahre Grundschule oder noch mehr …

die steht in Berlin und Brandenburg unter Beschuss. Das dreigliedrige Schulsystem infrage zu stellen, ist ein absolutes Tabu – erst recht nach den Pisa-Ergebnissen Bayerns.

Das liegt daran, dass die Deutschen Leistungsunterschiede innerhalb der Schülerschaft als Problem, nicht als selbstverständlichen Ausgangspunkt für Bildungsprozesse betrachten. In keinem anderen Land der OECD höre ich das Wort Leistungsheterogenität so oft wie in Deutschland. Obwohl sie ja in den Haupt-, Realschulen und Gymnasien die Schülerschaft schon in weitgehend homogene Gruppen sortieren, beklagen sich die Lehrer immer noch darüber, dass die Leistungen zu unterschiedlich seien. Das System geht davon aus, dass die Entwicklungen der Schüler exakt nach Plan verlaufen. Nur: Die Realität ist nicht so.

Ein paar Gesamtschulen gibt es ja.

Aber selbst dort gilt Leistungsheterogenität als Problem. Auch da ist das Bewusstsein vorherrschend, dass man schlechte Schüler loswerden kann und Schüler in homogene Leistungsgruppen sortiert. Nicht die deutsche Gesamtschule, sondern integratives und individuelles Fördern von Schülern in Staaten wie Finnland, Japan oder Kanada sind Beispiele. Diese Staaten erreichen eine überdurchschnittliche Gesamtleistung und nutzen das Leistungspotenzial von Schülern aus ungünstigen sozialen Milieus deutlich besser aus. Leistung zu maximieren und Chancengleichheit sicherzustellen sind keine politischen Alternativen.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen früher Auslese und schlechten Pisa-Resultaten von sozial benachteiligten und Migrantenkinder?

Mit einer kurzen Startphase schulischen Lernens errichten Sie besonders für Migranten große Barrieren. In Deutschland dauert die Grundschule in der Regel vier Jahre, dann fällt das System die Entscheidung für das Leben, in welche Schulform sie kommen. Das reicht aber nicht aus – vor allem wenn Sie beim ganz frühen Erlernen der Sprache nachlässig sind.

Ist das denn im internationalen Vergleich der Fall?

In Deutschland gibt es eine falsch verstandene Zurückhaltung beim Sprachelernen. In Frankreich läuft das ganz anders. Dort werden Sprachdefizite durch frühe Förderung der französischen Sprache gezielt ausgeglichen.

Wären Sie also für eine Vorschulpflicht für Migrantenkinder, damit sie die Sprache lernen?

Pflicht – das ist wieder so eine typisch deutsche Herangehensweise. Ein gutes Bildungsangebot wird in der Regel angenommen. Das A und O scheint mir zu sein: Wie kann man ein gutes Bildungsangebot zur Verfügung stellen, das jedem seine Chance bietet?