: Jenseits der Langeweile
Was geschieht, wenn jemand jahrelang dieselben Buchstaben an die Wände seiner Stadt sprüht? Die Graffiti-Ausstellung „urban discipline“ sucht den Weg der Künstler von der Straße in die Galerie
von ANNA v. VILLIEZ
Ende der 60er Jahre kamen eine Menge Menschen auf einen ganzen Haufen kurioser Ideen. Warum aber ein milchbärtiger Teenager namens Dimitrios auf den Trichter kam, „TAKI 183“ an die Wände sämtlicher U-Bahn-Stationen New Yorks zu kritzeln, wird wohl ewig sein Geheimnis bleiben.
In Hamburgs Astra-Brauerei ist dreißig Jahre nach Dimitrios‘ nächtlichen Spaziergängen zum dritten Mal die Graffiti-Ausstellung urban discipline zu sehen. Auf über 2000 Quadratmetern wird ein in dieser Form weltweit einmaliger Querschnitt durch den ganzen Kosmos dieser Subkultur geliefert, die der griechische Migrantensohn lostrat.
Graffiti: das sind Tags, Bilder, Sprühdosen, Pubertät und das wunderbare Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, als Mitglied der weltweiten HipHop-Familie die Stadt zu „bombardieren“. Genau das haben die 34 angereisten Graffiti-Künstler aus zehn Ländern hinter sich. Sie verbrachten ihre Jugend mit der Sprühdose in der Hand auf der Hut vor Ordnungshütern. Heute stecken die ehemaligen U-Bahn-Kings in der Mauser vom Graffiti-Sprüher zum Künstler. „Ob das alles noch Graffiti ist, was hier zu sehen ist, darüber kann man streiten“, so Organisator und Hamburger Sprüher-Legende Mirko Reisser alias DAIM, „Wir wollen Künstler zeigen, deren Perspektive Graffiti ist.“
Den eigenen Namen möglichst so an die Wand zu sprühen, dass die Konkurrenz das Fürchten bekommt, gebietet der Battle of Style. Was passiert aber, wenn man seit mehr als einem Jahrzehnt dieselben vier, fünf Buchstaben malt? Klar, sie verändern sich, umschlingen sich wie Würmer, blähen sich auf wie Ballons oder drehen sich imposant 3D-mäßig durch den Raum, bis ihnen dann irgendwann trotzdem verdammt langweilig wird.
Genau hier setzt das urban discipline-Konzept an. Sowohl MEAR aus LA, OS GEMEOS aus Sao Paolo als auch BANSKY aus London: sie haben ihre Formsprache auf den Mauern ihrer Stadt entwickelt. Ihre Ölbilder, Skulpturen, Installationen und Graffitis suchen den Weg in eine neue Dimension. Sie metamorphieren, sichten den Ausweg aus graphischen Tretmühlen. MEAR bleibt der Technik treu, nur seine Stoßrichtung ändert sich: „Mittlerweile nutze ich Graffiti, um mich politisch auszudrücken. Ich habe kein Interesse daran, schöne Bildchen für die Bourgeoisie zu malen.“ Kollege JOKER aus Australien hat den Weg in die Abstraktion angetreten und überzeugt damit.
Graffiti in der Galerie, das ist kein neuer Hut: Anfang der 80er entdeckten die New Yorker Galeristen Graffiti, Jean-Michel Basquiat und Keith Haring wurden zu Kunstszenen-Celebrities hochgejubelt. Dass 20 Jahre später HipHop im Dienste der Jugendkultur-Industrie steht und Graffiti-Workshops zum Standard-Angebot jedes Jugendhauses gehören, macht die Sache nicht einfacher. Ob der Quantensprung vom U-Bahnschacht auf die Galeriewand gelingt, mag das Auge des Betrachters entscheiden.
täglich 12:00–21:00 Uhr, Astra-Hallen, Bavaria St. Pauli Brauerei, Bernhard-Nocht-Straße; bis 02.07.02; www.urbandiscipline.de; Katalog: 29 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen