: Die Zeit der Roten Socken
betr.: „Gysi geht zu weit“ (MICHAEL CRAMER über die Freiheit der Kritik), taz vom 19. 6. 02
Der Termin der Bundestagswahlen naht. Es ist die Zeit der roten Socken. Die Berliner Grünen lassen ihren Abgeordneten Michael Cramer mit seinem Gastbeitrag in der taz vom 19. Juni ein wahres Schelmenstück stricken. Cramer wirft Gregor Gysis vor, „dass er die Auseinandersetzung über seine Vergangenheit juristisch unterbindet“. Das ist unwahr, und Cramer weiß es: Gregor Gysi erwirkt ein um das andere Mal erfolgreich Unterlassungsurteile gegen Leute, die unwahre, ehrverletzende Behauptungen über ihn aufstellen. Die Gerichte geben Gysi Recht, weil die Ehrverletzer ihre Behauptungen nicht beweisen können. Und das ist gut so, weil unwahre Diffamierungen keine schützenswerte Kritik und schon gar keinen Beitrag zur Aufarbeitung von Vergangenheit darstellen, sondern Anschläge auf jede demokratische Streitkultur.
Das Sekretariat des Immunitätsausschusses des Bundestags – der Sympathie für Gysi und die PDS wahrlich nicht verdächtig – hatte in der vorigen Wahlperiode nach akribischer Sichtung der vorgelegten Unterlagen in einem Entscheidungsvorschlag formuliert, dass eine „inoffizielle Tätigkeit Dr. Gysis für das MfS nicht erwiesen“ sei. Das war nicht verwunderlich. Schließlich gibt es von Gysi weder eine Verpflichtungserklärung noch einen einzigen „Bericht“. Ja, es gibt nicht einmal eine Akte, in der er als IM bezeichnet worden war. Dennoch ließ die Ausschussmehrheit den Entwurf ihres Sekretariats einstampfen. Fraktionsangestellte der ganz großen Koalition aus CDU/CSU, SPD und Grünen formulierten flugs neu und nun das ganze Gegenteil. Allerdings mochte der gelernte Oberstaatsanwalt von Essen (FDP) sich dem nicht anschließen. Er enthielt sich der Stimme.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Anträge Gysis gegen den Ausschussbeschluss zwar verworfen bzw. zurückgewiesen. Das geschah mit einem Stimmenverhältnis von 4:4. Auch die vier Richter, die vollständig gegen Gysis Anträge stimmten, qualifizierten die vom Ausschuss aufgestellten Behauptungen jedoch keineswegs als wahr. Sie sahen in dem Beschluss nur eine „verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Wertung“. Die anderen vier Verfassungsrichter, an ihrer Spitze die damalige Präsidentin Jutta Limbach, entschieden demgegenüber, dass Gregor Gysi durch den Beschluss des Immunitätsausschusses in seinen Rechten als demokratisch gewählter Abgeordneter verletzt worden war. Gerade zu dem, was Cramer zitiert, formulierten sie: „Die Schlusspassage enthält keine Feststellungen, sondern Mutmaßungen. … Die Schlusspassage ist daher eher geeignet, den Verdacht zu nähren, das Überprüfungsverfahren werde als Mittel der politischen Auseinandersetzung gebraucht, um den betroffenen Abgeordneten politisch zu diskreditieren.“
Jetzt naht der Wahltermin, und man lässt wieder die roten Socken flattern. Der Immunitätsausschuss des Bundestags hat ein Überprüfungsverfahren gegen die Abgeordnete Angela Marquardt eingeleitet. Und Michael Cramer sorgt sich in einem taz-Beitrag um die Freiheit der Kritik. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. KURT NEUMANN, Referent für Petitionen, PDS
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