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Sozialpolitischer Offenbarungseid

betr.: „Heilung durch Statistik“ (Hartz-Kommission), taz vom 25. 6. 02

Wahlkampf hin oder her, die Wahrheit ist die: Die Empfehlungen der Hartz-Kommission – soweit sie bekannt sind – laufen auf folgendes hinaus: Ausweitung des Billiglohnsektors und indirekten Druck auf die Tariflöhne. Die systemnotwendige Tendenz der Marktwirtschaft dahin, dass die Reichen immer ärmer, den Unternehmen es immer schlechter und den Armen es immer besser geht, so dass sie bequem das Arbeiten sein lassen können (oder sehe ich da was falsch?), wird beschleunigt. Freilich, in fernen Ländern wie den USA oder gleich am anderen Ende Welt, Neuseeland, ist es ja gegenteilig gelungen, den Kapitalismus mit den superaktuellen Rezepten aus dem Ende des 18. Jahrhundert, euphemistisch „Neoliberalismus“ genannt, so zu reformieren, dass jeder Arbeit und Brot nach seinem Geschmack findet und eine Gesellschaft – ach wat – Gemeinschaft fröhlich-entspannt Schaffender entstanden ist. Auch einfache Dienstleistungen werden ebenso gut bezahlt wie geehrt, wie uns Barbara Ehrenreich überzeugend in ihrem Buch Working Poor berichtet hat.

Eigentlich müsste es doch einige aus der Masse deutscher Spitzenjournalisten, die sich ob des mutigen „Tabubruchs“ des SPD-Hartz gar nicht mehr einkriegen können, reizen, ihrer amerikanischen Kollegin nachzueifern. Im übrigen, die Ernennung eines Mannes namens Späth zum „Wirtschaftsass“ möge nachvollziehen, wer nicht anders kann. Die Jenaoptik hat er mit reichlich Subventionen und der Entlassung tausender Beschäftigter saniert (schweren Herzens, aber anders geht nun mal Sanierung im Rahmen des hoch gelobten „Wettbewerbs“ nicht).

In der Sendung „Berlin Mitte“ bewies er, dass er zwar sämtliche marktwirtschaftliche Glaubensartikel runterschwäbeln kann, aber es um seine Kenntnisse rechtlicher wie tatsächlicher Umstände erbärmlich bestellt ist: Dass die Abfindung älterer Beschäftigter bei Verzicht auf Kündigungsschutz bereits möglich ist, aber nur marginal deren Chancen erhöht, und zudem der Betreffende lediglich rechtlich, nicht aber tatsächlich eine Wahl hat; dass das Steueraufkommen im Wesentlichen von den Lohn- und Gehaltsempfängern, nicht aber von den sich arm rechnenden Mittelständlern (unangefochten die edelste Spezies, die die Menschheit hervorgebracht hat) aufgebracht wird.

Auch staatstheoretisch bewegt sich Herr Späth auf entsprechendem Niveau. In einer ZDF-Talkshow bei Johannes Gross selig überraschte er mit der Erkenntnis „Der Staat sind doch wir alle“. Worauf J. Gross milde lächelnd anmerkte, diese Ansicht sollten wir doch besser der Sozialkunde überlassen (ich würde sagen besser „Vera am Mittag“).

Wohin der Zug geht, weiß ich nicht, bin mir aber sicher, dass es in absehbarer Zeit nicht nur in diesem unserem Lande gewaltig krachen wird. Wenn wir Glück haben nach links, es steht aber zu befürchten nach rechts.

Mein Tipp an den Mainstream unseres obrigkeitsbegeisterten demokratischen Journalismus: Er sollte sich vorsorglich ein paar dumme Sprüche zurechtlegen, um auch das glattzuschnacken. Denn das allgemeine Interesse am gegenwärtigen medialen Geraune hat doch sehr nachgelassen.

KLAUS PRIESUCHA, Oldenburg

Die frühkapitalistischen Verursacher dieser Massenarbeitslosigkeit sitzen nun über ihre völlig unschuldigen Opfer zu Gericht. Sollte diese Hartz-Doktrin in Deutschland gesetzliche Realität werden, landet ein großer Teil des ohnehin finanziell und geistig- moralisch geprügelten Arbeitslosenheeres entweder in der Gosse oder am Strick.

Haben denn die Initiatoren und Befürworter dieses unverantwortlichen Spektakels vergessen, dass seinerzeit ein gewisser Herr Hitler viele, viele Menschen unter genau diesen Vorzeichen in Not und Elend gestürzt hat? Ebenso erschreckend wie beschämend ist die Tatsache, dass weite gesellschaftliche Kreise diesem sozialpolitischem Offenbarungseid kritiklos zustimmen. Und hierbei spannt sich der Bogen erstaunlicherweise von den dunkelroten PDS-Stalinisten bis zu den tiefschwarzen CSU-Kapitalisten. Besten Dank für Ihre Bemühungen!

GÜNTER SCHÖBEL, St. Blasien/Schwarzwald

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