Das Meer hat sich verändert

Kleine Zündungen zwischen Senegal und Harlem: Was nachwirkt von der Sklaverei, zeigt „Little Senegal“ von Rachid Bouchareb

„What's your point with the past? Ich kümmere mich lieber darum, dass ich ein Abendessen auf den Tisch bekomme.“ Ida hat Alloune nicht darum gebeten, den weiten Weg von Senegal über den Ozean nach Little Senegal zurückzulegen, um ihr Geschichten von Ururgroßvätern und -müttern zu erzählen. „I'm not interested in your Djulas or Lulas.“

Was also soll der Scheiß mit der Vergangenheit? Für den älteren Herrn Alloune (Sotigui Kouyate) ist sie Alltag. Seit zig Jahren führt er Touristen durch das Sklavenmuseum auf Goree, der ehemaligen Sklaveninsel direkt vor Dakar. Hält verrostete Eisenketten in die Höhe, zeigt auf abgeschrabbelte Wände, erzählt davon, was Menschen Menschen antun. Seine Führung endet an einer Luke, durch die man das knallblaue Meer sehen kann. Die Schiffe, die sich auf den Bildausschnitt zu- und wieder wegbewegen, karren neue Touristen an. Manche von ihnen haben am Ende von Allounes Geschichte Tränen in den Augen. „Von hier gab es kein Zurück mehr. Hier wurden die Sklaven auf die Schiffe verladen und in die USA gekarrt.“ Alloune geht eines Tages denselben Weg. Er folgt der Spur seines Familienstammbaums, die ihn zur US-amerikanischen Gegenwart nach Harlem führt, wo alle um ihre Existenz kämpfen. Für Rührseligkeit hat niemand Zeit.

Wie eine Holzschnittfigur wandelt Sotigui Kouyate durch den Film, prädestiniert für die Rolle des dickköpfigen, weisen Alten. Auch sein Sohn Dani Kouyate ließ ihn in seinem Film „Keita: L'Héritage du griot“ (1994) Störenfried in einer Mittelstandsfamilie in Burkina Faso sein. Die in ihrem Kleidungsstil und Alltagsgepflogenheiten europäisch orientierten Besserverdienenden hielten den Alten mit seiner Hängematte, seiner Kora und den Dreadlocks für ähnlich bekloppt wie die junge, zusammengewürfelte, sich mit diversen Jobs über Wasser haltende Familie in New York. Geboren in Bamako, Mali, ist Sotigui Kouyate in Westafrika eine Legende. In den 60ern soll er das erste Ballett in Burkina Faso geründet und als Fußballspieler zweimal für seine Nationalmannschaft gespielt haben. Später haben ihn Leute wie Bernardo Bertolucci, Margarete von Trotta oder Amos Gitaï engagiert. Ende der 80er holte ihn Peter Brook zum ersten Mal für eine Rolle im „Mahabharata“ nach Paris, zur Zeit spielt Sotigui Kouyate regelmäßig Shakespeare in Brooks Ensemble.

Geschichten mit eigenwilligen Außenseitern leben natürlich von der gegenseitigen Annäherung. In „Keita“ lernt der Griot vom verwöhnten Fratz des Hauses, wie man Spaghetti isst, und dieser findet die Mythengeschichten Afrikas schließlich spannender als den Schulunterricht. In „Little Senegal“ wird Ida, die schroffe, schöne Lady, die einen Straßenecken-Zeitungsladen betreibt, zu schätzen lernen, einen verantwortungsvollen Herrn an ihrer Seite zu haben. Rachid Bouchareb spart sich eine Dramaturgie, die auf Versöhnung oder Erkenntnis hinausläuft. Zwischendurch inszeniert er kleine Zündungen, Momente, die von Zärtlichkeit handeln. Der Rest ist Alltag, Arbeit, Taxi fahren, Zeitungen und Handtaschen verkaufen, Streit, im Waschsalon rumhängen. Intimität findet statt und verflüchtigt sich wieder. Im Fernsehen flimmern die Nachrichten. Amadou Diallo wurde mit 41 Schüssen niedergestreckt, an einem anderen Tag hält jemand eine verrostete Eisenkette in die Kamera, mit der ein Lkw-Fahrer einen dunkelhäutigen Amerikaner an seinen Lkw gehängt und über die Straße gezogen hat. Das Wort Sklaverei taucht wieder auf, als Hassans Freundin, Eileen, die den ganzen Film über kaum ein Wort gesagt hat, ihn anschnauzt, sie habe keinen Bock mehr, seine Sklavin zu sein. „Meinst du, ich bin von Afrika weg, um mit dir hinter einem Vorhang zu ficken, mir von dir ein Kind nach dem anderen andrehen zu lassen?“

Was der Scheiß mit der Vergangenheit also soll? Dass Menschen verrückt genug sind, zu tun, was sie für richtig halten. Einem Traum zu folgen, Familienbanden auszudehnen, Wegstrecken zurückzulegen. Alloune kehrt zurück nach Dakar. Aber das Meer hat sich verändert, das Blau ist nicht mehr abstrakt. Auch der Stil, wie Touristen durch das Sklavencastle geführt werden, hat sich verändert. Ein wesentlich jüngerer Herr erzählt im flotten Tonfall: Und in diesem Raum wurden die Frauen gefangen gehalten. Er hält demonstrativ eine verrostete Eisenkette hoch, macht eine Kunstpause. Die Touristen sind ein bisschen betroffen, und Alloune träumt von Ida und dem Zeitungskiosk an der Straßenecke.

ANNETT BUSCH

„Little Sengal“, Regie: Rachid Bouchareb. Mit Sotigui Kouyate, Sharon Hope u. a., Frankreich 2001, 98 Min.