Ich ist ein Cartoon

Digitalisierte Bewusstseinszustände: Richard Linklater führt in seinem bizarren Animationsfilm „Waking Life“ eine philosophische Diskussion über die Beziehung von Traum und Wirklichkeit

Ein Außenseiter wie Richard Linklater lässt Hollywood links liegen und setzt sein obsessives Thema lieber Workshop-artig um. Der Mann ist Philosoph und Filmemacher, was ihn in seinem Heimatstaat Texas sowieso zum Exoten stempelt. Und er bleibt seinem Ruf treu, indem er sich in Austin/Texas ums Arthouse-Kino verdient macht und bislang neun Filme von konsequent sperriger Machart gedreht hat.

Wie sich Jungsein anfühlt, interessiert den bald 40 Jahre alten Filmemacher manisch. Besser: wie sich das Suchen, Angsthaben, Faulenzen, Blödeln der Twentysomethings im Sprechen zeigt, inspiriert den typischen Linklater-Stil. Der ist stets originell, kann aber strapaziös wirken. Auch „Waking Life“ lässt einen im Kinosessel zweifeln, ob das juvenile texanische Alexander-Kluge-Konzept des Autorenregisseurs die Grenzen des Kinos bloß in der Hinsicht sprengt, dass man die darin verhandelten theoretischen und aphoristischen speeches lieber in einem Buch lesen würde.

Linklater kommt ohne Plot aus. Wie ein Zeremonienmeister legt er seinen fiktionalen Figuren komplizierte Sentenzen in den Mund, reiht ihre Statements aneinander und bastelt aus dem Redefluss Generationenportraits. Streifzüge, Testfahrten, serielle Kompositionen sind seine Filme, allesamt Redemarathons, die banale Albereien, poetische Pointen und intellektuelle Abhandlungen zu einem synthetischen Gewebe verknüpfen.

Ohne Robert Redfords berühmtes Sundance Film Festival wäre vermutlich keiner seiner Filme in den Weltvertrieb gelangt. Aber beim wichtigsten Treffen des unabhängigen US-amerikanischen Films kommt Linklaters unbekümmerte Ignoranz gegenüber Genregesetzen gut an. Mit „Slackers“ wurde er 1991 berühmt und kreierte damit sogar ein geflügeltes Wort für die Neunziger-Generation. Hundert Passanten animierte er darin, beim Schlendern tief schürfende Selbstaussagen oder amüsantes Blabla zu erzählen – ein Puzzle aus Lebensgefühlen. Ähnlich funktionierte „Dazed and Confused“ (1993), eine Art intellektuelles „Zurück in die Zukunft“-Thema, bei dem dreißig Highschool-Abgänger des Jahrgangs 1976 in einer fiktiven Parallelmontage über ihre Zukunftsängste erzählen. Auch Linklaters hierzulande erfolgreichster Film „Before Sunrise“ (1994) ist ein Sprachmarathon: Julie Delpy und Ethan Hawke stranden in Wien, wollen sich nicht ineinander verlieben, reden sich aber eine Nacht lang in immer innigere Vertrautheit hinein.

„Waking Life“ ist ein neues Experiment. Wieder geht es um einen jungen Mann (Wiley Wiggins, der schon in „Dazed and Confused“ spielte), um Gefühle und Assoziationen, die für die Schwelle zum Erwachsenwerden charakteristisch sind. Die Kunstfigur funktioniert als Passagier durch einen imaginären Kosmos, in dem alle Begegnungen zu einem philosophischen Diskurs über die Beziehung von Traum- zu Wachzuständen verwoben sind.

Was, wenn sich der Traum der letzten Nacht als Realität herausstellt? Was, wenn wir durch unser Leben schlafwandeln und in den Träumen wach sind? Linklaters junger Mann wacht nach jeder Episode auf und entdeckt, dass er in einem neuen Traum gefangen ist. Der Film ist die Suche nach dem Schlüssel zum Ausgang, stellt Fragen nach der Natur des Bewusstseins und blättert einen ganzen Katalog philosophischer und psychologischer Theoreme zu den Grenzbereichen der Subjektivität auf.

Abstrahieren wollte Linklater sein universelles Thema von den uramerikanischen Settings, die Austin bietet. Es musste möglich sein, das schwebende Fluidum von Traumlandschaften aus dem materiellen Anschein und den festen Koordinaten realistischer Filmbilder herauszufiltern. Seine Lösung ist einfach und von stupendem Effekt, jedoch über die volle Spielfilmlänge anstrengend für Augen und Gehirn. „Waking Life“ wurde auf Mini-DV aufgezeichnet und dann in einem aufwändigen Computerverfahren Szene für Szene quasi übermalt. So entstand ein bizarrer Animationsfilm, in dessen Figuren die Physiognomien der Schauspieler noch erkennbar sind, deren monochrome Hintergründe und cartoonähnliche Konturen jedoch ständig in fließender Bewegung sind. Die Rhythmik der Tangomusiker, überhaupt die Musik des Films, korrespondieren ideal mit diesem visuellen Verfahren, das Linklater mit einem Team um den renommierten MTV-Trickfilmer Bob Sabiston entwickelt hat. Merksätze zum Nach-Hause-Tragen und Weiterträumen bietet „Waking Life“ in Überfülle, falls man nicht vor der Sophisterei kapituliert. CLAUDIA LENSSEN

„Waking Life“. Regie: Richard Linklater. Mit Ethan Hawke, Wiley Wiggins, Sara Nelson u. a. USA 2001, 100 Min.