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kommentarArbeitslos im ostdeutschen Labor der Moderne

Jeder Wahlkampf ist eigentlich so wie der letzte Wahlkampf, nur besser. Was vor vier Jahren falsch gelaufen ist, das wollen die Parteien jetzt richtig machen.

 Die Erkenntnisse von 1998 ließen sich in eine Formel pressen: „Im Osten werden Wahlen nicht gewonnen, aber verloren.“ Seit gestern ist sie wieder aktuell, als die Arbeitsmarktdaten für Juni bekannt gegeben wurden: Im Osten sind doppelt so viele Menschen erwerbslos wie im Westen. Da stellen sich in Wahlkampfzeiten gleich zwei Fragen: Was kann man tun? Und, noch wichtiger: Wer ist schuld?

 Genaues Hinsehen bringt da eine überraschende Antwort: Tun kann man eigentlich nichts. Und „schuld“, ein völlig unpassender Begriff, „schuld“ sind unter anderem die Frauen und die vielen Babys, die vor etwa zwanzig Jahren geboren worden sind. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist nicht nur, aber auch ein demografisches und ein soziokulturelles Phänomen. Denn die geburtenstarken Jahrgänge der 50er- und 60er-Jahre in der DDR haben selbst wiederum früher Kinder bekommen. So lebt ein Drittel aller deutschen 16- bis 24-Jährigen in Ostdeutschland – obwohl die Ostler nur ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen.

 Können diese Kinder ein Problem sein? Nein, sie sind „ein Geschenk“, wie es der Brandenburger Exministerpräsident Stolpe gestern ausgedrückt hat. „Schuld“ an der Arbeitslosigkeit im Osten sind auch die vielen Frauen auf Jobsuche; es sind 15 Prozent mehr als im Westen. Können sie ein Problem sein? Nein, auch sie machen der Gemeinschaft ein Geschenk, indem sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen.

 Wir haben uns angewöhnt, den Osten als rückständig zu definieren. Aber er ist auch ein Labor der Moderne. Dort haben wir die Gesellschaft, die uns sonst als fortschrittlich angepriesen wird: viele Jugendliche (allerdings wenig Kinder) und viele Frauen mit Erwerbswunsch. Wir haben auch eine zunehmend produktive Wirtschaft, die über eine immer bessere Infrastruktur verfügt.

 Es gibt Nachholbedarf, zugegeben, aber niemand wird ernsthaft glauben, dass die Arbeitslosigkeit verschwunden ist, wenn der Osten über ebenso viele Autobahnen verfügt wie der Westen. Nein, wir müssen uns daran gewöhnen, der Osten führt es vor: Eine moderne Gesellschaft, wie wir sie wollen, wird immer wieder hohe Arbeitslosigkeit kennen. Aber das ist kein Grund zur Panik: In erster Linie müssen Arbeit und Reichtum gerecht verteilt werden.   ULRIKE HERRMANN

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