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Kritik auf höchstem Niveau

Dortmund lässt im Uefa-Cup-Halbfinale den AC Mailand mit 4:0 untergehen. Die Freude darüber hält sich aber in Grenzen, weil bisweilen behauptet wird, Leverkusen spiele schöneren Fußball

aus DortmundULRICH HESSE-LICHTENBERGER

Dortmunds größte Europapokalnacht seit dem 5:0 über Benfica Lissabon vor fast 40 Jahren hatte viele Gesichter, die meisten von ihnen waren grimmig oder zumindest nachdenklich. Da war zum einen Carlo Ancelotti, Trainer des ruhmreichen AC Mailand. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, drückte er sich in eine Ecke des Aufzuges, der ihn zum wartenden Mannschaftsbus brachte. Seinen Blick auf den Boden fixiert, sah er aus wie ein Mann, der sich fragte, ob es nicht besser wäre, wenn der Lift niemals unten ankäme. Um ihn herum blickten Italiener und Deutsche gleichermaßen betroffen; erstere vor Verzweiflung, letztere aus Pietät.

Mit 4:0 war Ancelottis Elf gerade im Halbfinale des Uefa-Cups gegen den BVB untergegangen, und tatsächlich gibt nur dieses Verb – untergegangen – das Geschehen wieder. Seit 1989 hatte kein Team vom Renommee des AC Mailand in der Vorschlussrunde eines Europacups so hoch verloren (damals schlug Milan selbst Real Madrid mit 5:0), kein Wunder also, dass Carlo Ancelotti Löcher in den Boden stierte.

Aber da war ja auch noch Matthias Sammer, der triumphale Sieger des Abends. Manche Leute glauben ja, der schönste Satz aus dem Film „Der Schuh des Manitu“ könne nur aus seiner Feder stammen, denn er blickt immer ein wenig drein, als wolle er gleich sagen: „Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden.“ Diesmal jedoch wären fast die Gäule mit ihm durchgegangen: „Ziemlich gut“ nannte er die erste Halbzeit seines Teams, merkte dann aber, dass das zu wenig war und versuchte mit einem „ziemlich perfekt“ nachzulegen. Das klang nun wieder zu euphorisch, weshalb sich Sammer schließlich ein knappes „sehr gut“ entrang und kurzerhand erklärte, die erste Hälfte nicht weiter kommentieren zu wollen.

Bei seiner Analyse der zweiten Halbzeit bewegte sich Sammer dann wieder auf ihm vertrautem Terrain. Denn obwohl diese das 4:0 durch Heinrich brachte (62.), hatte die Borussia laut Sammer „auch das Quäntchen Glück“, kein Gegentor kassiert zu haben. Und als jemand bemerkte, man könne sich nicht vorstellen, dass Mailand im Rückspiel fünf Tore gelängen, hatte er sich schon wieder so weit in der Gewalt, dass ihm ein echter Sammerismus gelang: „Vieles im Leben kann man sich nicht vorstellen.“

Aber wo waren denn nun die strahlenden Gewinner? Man musste sich wohl auf die Suche nach den Brasilianern begeben. Nach Dede etwa, der die linke Außenbahn so kontrolliert hatte, dass Ancelotti schon nach einer halben Stunde seinen zentralen Stürmer Jose Mari auf die Flanke schicken musste, um Dede zu stoppen (woraufhin der vier Minuten später drei Italiener in Folge überlupfte, was zum 2:0 führte). Nun: Dede war verschwunden. Dafür umringten neun italienische Journalisten Marcio Amoroso. Jener hatte nicht nur per Hattrick die ersten drei Tore markiert (8./ 34./ 39.), sondern auch so unermüdlich nach hinten geschuftet, dass der gefürchtete Offensivverteidiger Cosmin Contra in den 65 Minuten, die er spielen musste, nur ein Mal für Gefahr sorgte. Doch selbst Amoroso ließ sich die Genugtuung, die ihm die Partie bereitet haben musste, nicht anmerken, sondern bedauerte, dass er nicht im WM-Aufgebot Brasiliens steht. Hinter ihm nutzte ein ernster BVB-Manager Michael Meier die Gelegenheit, all jene zu kritisieren, die die Borussia „unterbewerten, wenn sie immer sagen, Leverkusen spielt schönen Fußball, aber die Dortmunder geigen nur rum“.

Das war es wohl: Die Helden des Tages waren beleidigt. „Wir haben uns auf einem sehr hohen Niveau kritisiert“, sagte Sammer etwas säuerlich. Trotz der grammatikalischen Unwucht wusste jeder Zuhörer, was gemeint war. Dabei gab es an diesem Abend niemanden, der Kritik üben wollte. Außer dem Rudel Wölfe natürlich, das am Bus auf Ancelotti lauerte.

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