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Mehr Kapitalismus wagen

betr.: „Seit Georg Picht nichts gelernt“ von Richard Kelber, taz vom 3. 4. 02 (Bildung)

„Picht heißt heute Pisa und ist eine Studie der OECD“, lautet die treffliche Charkterisierung des Autors. Und doch unterscheiden sich beide Menetekel, was ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (und vielleicht sogar, was ihre individualpsychologischen Verarbeitungsmöglichkeiten) angeht, ums Ganze.

In den 60er-Jahren waren die auf Sputnik-Schock und Mauerbau zurückgehenden Warnungen und die aus ihnen später hervorgehenden gesellschaftlichen Reformen vom Postulat des „Mehr Demokratie wagen“ getragen und fanden komprimiert betrachtet ihren pädagogischen Ausdruck im Wunsch nach einer „Erziehung zur Mündigkeit“.

Seit der Implosion des Kommunismus und der großen Kehre Anfang der 90er-Jahre aber stehen die gesellschaftlichen Rahmenbedingen weltweit unter dem Diktum des „Mehr Kapitalismus wagen“. Und bis hinein in die Universitäten (aber eigentlich schon angefangen bei den pränatalen Wünschen der Eltern) beginnt sich (unausgesprochen) nur noch ein allgemein gültiges „Bildungsziel“ durchzusetzen: „Die Vorbereitung auf die Nano-Sekunden-Kultur eines sich unaufhörlich verändernden Marktes – im globalen, wie im individuellen.“

Die Pisa-Studie hat lediglich offen gelegt, dass diese Vorbereitung bei uns (im Vergleich zu anderen Wettbewerbern) unzureichend ist. Und das wiederum hat wunderbare Diskussionen darüber entfacht, ob die ausbildungs- und sozialpolitischen Wassertemperaturen gesenkt oder erhöht werden müssen. Welchen Kurs währenddessen der Luxus-Liner mit dem Swimming-Pool unseres Bildungswesens steuert (und damit die Frage nach dem Ziel von Bildung, das über die eigene und die New Yorker Börse hinausgeht) liegt uns mit allabendlichem Fernsehblick auf die „Flöße der Medusa“ heute ferner denn je. WALTER GRODE, Hannover

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