Kapriolen der Natur

Das Kaspische Meer ist der größte und wohl unberechenbarste Binnensee der Erde. Mal steigt der Wasserpegel um mehrere Meter, dann fällt er wieder. Die Folgen für die Umwelt sind dramatisch

aus Baku BERNHARD MATUSCHAK

In der Bucht von Baku ragen Betonruinen aus dem Wasser. Die Überreste der alten Quaianlagen der aserbaidschanischen Hauptstadt zeugen von einer Naturkatastrophe, die von 1978 bis Mitte der 90er-Jahre andauerte.

Damals stieg der Pegel des Kaspischen Meeres um mehr als zweieinhalb Meter. Allein in Aserbaidschan wurden 800 Quadratkilometer Land, 50 Siedlungen, 250 Betriebe und 20 Kilometer Eisenbahnstrecke von den salzigen Fluten überschwemmt. Die Schäden in der seit 1991 unabhängigen ehemaligen Sowjetrepublik bezifferten sich auf fast 300 Millionen US-Dollar.

Der Anstieg des Meeres verursachte nicht nur materielle Schäden. Aus den veralteten und maroden Ölförderanlagen Aserbaidschans wurden Unmengen von Ölabfällen, Phenolen und Schwermetallen in die Kaspische See geschwemmt. Zudem drohte die Altstadt von Baku und damit ein Unesco-Weltkulturerbe ein Raub der Fluten zu werden.

Eine derart dramatische Veränderung des Wasserspiegels ist in der Geschichte des Kaspischen Meeres kein seltenes Ereignis. Seit das Gewässer vor fünf Millionen Jahren durch eine Hebung der Erdkruste vom Schwarzen Meer getrennt wurde, stieg der Wasserspiegel immer wieder an, um dann genau so stark zu fallen, dies zeigt sich beispielsweise an der Lage der Karawanserei von Baku. Die Reiseunterkunft wurde traditionell immer nah am Ufer gebaut. Die Überreste der Karawanserei aus dem 11. Jahrhundert liegt heute in 40 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund, die neue, im 13. Jahrhundert errichtete Karawanserei trohnt gut zehn Meter über dem derzeitigen Meeresspiegel. Auch im 20. Jahrhundert war das Binnenmeer einem Schrumpfungsprozess ausgesetzt. Von 1929 bis 1940 wurde ein Gebiet von 25.000 Quadratkilometern trocken gelegt. Unter der Parole „Rettet das Kaspische Meer“ entwarfen deshalb Mitte des 20. Jahrhunderts sowjetische Wissenschaftler und Ingenieure Modelle, wie der Rückgang des Pegels zu stoppen sei.

Als Erfolg versprechendste Lösung wurde eine Umleitung sibirischer Flüsse ins Kaspische Meer diskutiert. Glücklicherweise verhinderte in diesem Fall die Natur selbst, das der Mensch durch dilettantisches Eingreifen noch größeren Schaden anrichtete. Denn Ende der 70er-Jahre begann der Pegel plötzlich wieder zu steigen, und die Pläne für die Umleitung der sibirischen Flüsse verschwanden in den Schubladen der Behörden. Wenig später sah man sich bereits genötigt, eine neue Parole auszugeben, unter der nun Maßnahmen zur Senkung des Wasserstands diskutiert wurden. „Rettet uns vor dem Kaspischen Meer“ lautete der Slogan, der die Experten erneut an einen Tisch brachte.

Inzwischen war jedoch die Einsicht gereift, dass eine Regulierung des Meeres erst dann sinnvoll ist, wenn man die genauen Ursachen für das Auf und Ab des Meeresspiegels kennt und zuverlässige Modelle für eine Vorhersage der Pegelentwicklung erstellt werden können. In den 90er-Jahren fanden deshalb mehrere internationale Symposien und Workshops unter der Ägide der UN-Umweltorganisation Unep statt, auf denen die Ursachen der Pegelveränderungen diskutiert wurden.

„Dabei wurde deutlich, dass von den drei möglichen Faktoren Geologie, Mensch und Klima der letztgenannte die entscheidende Rolle spielt“, sagt Ramiz M. Mammedov vom geografischen Institut der Akademie der Wissenschaften in Baku. Zwar befinde sich das Kaspische Meer in einer tektonisch aktiven Region. Doch die Plattenverschiebung verlaufe in horizontaler Richtung, deshalb verändere sich die Morphologie des Meeresbodens nach einem Beben kaum.

Mammedov schätzt den Einfluss der Tektonik auf etwa 10 bis 15 Prozent. Noch geringer fällt für den Geologen der Faktor Mensch ins Gewicht. Zwar bedeute die Wasserentnahme für industrielle und landwirtschaftliche Zwecke eine empfindliche Störung im Wasserhaushalt des kaspischen Meeres – seit 1930 werden jährlich etwa 40 Kubikkilometer Wasser entzogen: „Dennoch würde dies höchstens ein Absinken des Pegels um etwa zehn Zentimeter pro Jahr erklären, wie wir ihn in den 70er-Jahren verzeichneten, und keinesfalls den enormen Anstieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, konstatiert Mammedov.

Die 130 Zuflüsse, über die jedes Jahr 300 Kubikkilometer Wasser ins Kaspische Meer strömen, sind entscheidend für die markanten Pegelschwankungen des Gewässers. Denn der direkte Eintrag über Niederschläge macht nur etwa 70 Kubikkilometer aus. 80 Prozent der durch die Flüsse eingebrachten Wassermenge liefert dabei allein der größte europäische Strom, die Wolga. Der Rückgang des Pegels in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sei, so Mammedov, eindeutig auf einen Rückgang der Winterniederschläge und die damit verbundene reduzierte Wassermenge der Wolga zurückzuführen.

Unterstützung für seine These erhält der Geologe von Maybed Mammedov. Für den Hydrometeorologen der Universität Baku sind ebenfalls klimatische Veränderungen und die damit verbundene Niederschlagsmenge der entscheidende Faktor für das Auf und Ab der Kaspischen See. Der Forscher betrachtet deshalb den momentanen Klimawandel auf der Erde mit großer Sorge.

Weitere Gefahren lägen in der zunehmenden Verschmutzung des Meeres durch die Erdölförderung: „Der Ölfilm auf dem Wasser, der bereits jetzt große Teile des Meeres bedeckt, vermindert die Verdunstungsrate, das kann fatale Folgen für den Wasserkreislauf haben.“

Zudem beunruhigt Maybed Mammedov eine Erblast aus der Sowjetzeit. „Von den 50ern bis in die 90er-Jahre fanden in der Region von Astrachan 40 Atombombentests statt. Dabei wurden tief im Untergrund Kavernen mit riesigen Wasservorräten geöffnet. Dieses Wasser strömt heute ins kaspische Becken. Doch wir wissen nicht genau, wie groß die Menge ist, denn die Daten sind immer noch geheim.“

Angesichts der vielen Faktoren, die den Pegelstand des Kaspischen Meeres beeinflussen, verwundert es denn auch nicht, dass sich die Wissenschaftler bis heute schwer damit tun, Voraussagen zu treffen. Die seit Mitte der 80er-Jahre vom russischen Hydrometrischen Institut erstellte Wasserstandsvorhersage basiert allein auf den Winterniederschlägen im Wolgabecken und gilt für jeweils ein Jahr.

Maybed Mammedov wagt dennoch eine weitergehende Prognose: „Bis zum Jahr 2010 wird der Meeresspiegel um 2,30 Meter ansteigen“, glaubt der Hydrometeorologe. Russische Berufskollegen, die sich an der Klimageschichte der Erde orientieren, malen noch ein düstereres Bild und prognostizieren einen Anstieg des Seespiegels um 4 bis 5,50 Meter bis zum Jahr 2050. Für Aserbaidschan hätte dies dramatische Konsequenzen: Fast die Hälfte der Landesfläche befände sich dann unter Wasser.